Siehe auch: Urteil des 2. Senats vom 18.3.2015 - B 2 U 8/13 R -, Urteil des 2. Senats vom 18.6.2013 - B 2 U 7/12 R -, Urteil des 2. Senats vom 5.7.2016 - B 2 U 16/14 R -, Urteil des 2. Senats vom 5.7.2016 - B 2 U 19/14 R -, Urteil des 2. Senats vom 5.7.2016 - B 2 U 5/15 R -, Urteil des 2. Senats vom 5.7.2016 - B 2 U 4/15 R -
Kassel, den 5. Juli 2016
Terminbericht Nr. 28/16
(zur Terminvorschau Nr. 28/16)
Der für Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung
zuständige 2. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine
Sitzung vom 5. Juli 2016 wie folgt:
1. Die Revision der Klägerin hatte Erfolg.
Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen
das Urteil des SG zurückzuweisen. Die Klägerin hat am 9.12.2010 einen in
der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Arbeitsunfall gem. §§ 2
Abs 1 Nr. 1, 8 Abs 1 SGB VII erlitten, als sie bei einer Wanderung im
Rahmen der Weihnachtsfeier ihres Sachgebiets stürzte. Die Klägerin war
als Beschäftigte versichert, weil die Weihnachtsfeier in einem inneren
Zusammenhang mit ihrer versicherten Tätigkeit als
Sozialversicherungsfachangestellte stand. Nach der ständigen
Rechtsprechung des BSG ist auch die Teilnahme an einer betrieblichen
Gemeinschaftsveranstaltung als Ausprägung der Beschäftigtenversicherung
gem. § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert. Hierfür war bereits nach
bisheriger Rechtsprechung zunächst erforderlich, dass die Veranstaltung
"im Einvernehmen" mit der Betriebsleitung stattfand (BSG,
9.12.2003 - B 2 U 52/02 R = SozR 4-2700 § 8 Nr. 2 und BSG,
26.10.2004 - B 2 U 16/04 R = SozR 4-1500 § 163 Nr. 1). Für ein solches
"Einvernehmen" reicht es aus, wenn der Dienststellenleiter in einer
Dienstbesprechung mit den jeweiligen Sachgebietsleitern vereinbart, dass
die jeweiligen Sachgebiete Weihnachtsfeiern veranstalten dürfen. Der
Beginn der Weihnachtsfeiern durfte nicht vor 12 Uhr mittags liegen und
war durch Betätigung der Zeiterfassung zu dokumentieren. Die
Weihnachtsfeiern waren der direkt dem Dienststellenleiter unterstehenden
Büroleitung anzuzeigen und die Beschäftigten erhielten eine
Zeitgutschrift in Höhe von 10 vH der wöchentlichen Arbeitszeit. Durch
die Gesamtheit dieser ‑ zudem seit Jahren praktizierten ‑ Vereinbarungen
wird hinreichend deutlich, dass die Feiern der einzelnen Sachgebiete im
Einvernehmen mit der Behördenleitung und damit im dienstlichen Interesse
stattfanden. Soweit das BSG bislang als weiteres Kriterium für
versicherte betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen darauf abgestellt
hat, dass die Unternehmensleitung persönlich an der Feier teilnehmen
muss, wird hieran nicht länger festgehalten. Betriebliche
Gemeinschaftsveranstaltungen stehen unter dem Schutz der Gesetzlichen
Unfallversicherung, weil durch sie das Betriebsklima gefördert und der
Zusammenhalt der Beschäftigten untereinander gestärkt wird. Dieser Zweck
wird auch erreicht und gefördert, wenn kleinere Untergliederungen eines
Betriebes Gemeinschaftsveranstaltungen durchführen. Die Teilnahme der
Betriebsleitung oder des Unternehmers persönlich ist hierfür nicht
erforderlich. Ausreichend ist daher, wenn durch eine betriebliche
Gemeinschaftsveranstaltung die Verbundenheit und das Gemeinschaftsgefühl
der Beschäftigten in dem jeweiligen Sachgebiet oder Team gefördert wird.
Notwendig ist dafür lediglich, dass die Feier allen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des jeweiligen Teams offen stand und die jeweilige
Sachgebiets- oder Teamleitung teilnimmt. Dies war hier der Fall, weil
die von der Dienststellenleitung ermächtigte Sachgebietsleiterin alle
Beschäftigten ihres Sachgebiets eingeladen hatte und die Feier
durchführte. Auf die tatsächliche Anzahl der Teilnehmenden kommt es
nicht an.
SG Kassel
- S 4 U 176/11 -
Hessisches LSG
- L 3 U 125/13 -
Bundessozialgericht
- B 2 U 19/14 R -
2. Die Revision der
Beklagten hatte Erfolg. Zu Unrecht hat das LSG entschieden, dass die
Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Ihre Verrichtung zur Zeit des
Unfallereignisses ‑ das Hinabsteigen der Treppe, um sich in der Küche
Wasser zu holen ‑ stand nicht in einem sachlichen Zusammenhang zur
versicherten Tätigkeit. Eine Beschäftigung iSd § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII
wird ausgeübt, wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetzt und darauf
gerichtet ist, eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht
aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen. Einer solchen
Pflicht ist die Klägerin mit dem Zurücklegen des Weges in die Küche
nicht nachgekommen. Sie befand sich zum Unfallzeitpunkt auch nicht auf
einem Betriebsweg. Betriebswege werden in Ausübung der versicherten
Tätigkeit und damit im unmittelbaren Betriebsinteresse zurückgelegt. Sie
sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch
außerhalb der Betriebsstätte anfallen. Allerdings beginnen und enden
solche Wege außerhalb der Betriebsstätte grundsätzlich erst mit dem
Durchschreiten der Außentür des Gebäudes, in dem sich die Wohnung des
Versicherten befindet. Diese Grenzziehung gilt zwar nicht, wenn sich die
Wohnung des Versicherten und die Arbeitsstätte in einem Haus befinden.
Hierzu hat der Senat bei Unfällen, die sich in Räumen oder auf Treppen
ereignen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte
zugeordnet werden können, darauf abgestellt, ob der Ort, an dem sich der
Unfall ereignete, auch Betriebszwecken (wesentlich) gedient hat und wie
sich der Nutzungszweck zum Unfallzeitpunkt darstellte (BSG 12.12.2006,
B 2 U 28/05 R = BSGE 98, 20 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 20). Es kann
dahingestellt bleiben, ob an diesen Maßstäben festzuhalten ist. Die
bisherigen Entscheidungen des BSG waren jedenfalls dadurch
gekennzeichnet, dass sich der jeweils zu beurteilende Unfall auf dem Weg
zur Ausübung der versicherten Tätigkeit ereignet hatte. Demgegenüber ist
die Klägerin auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur Küche und damit in
den persönlichen Lebensbereich ausgerutscht. Dass die Klägerin
grundsätzlich darauf angewiesen ist, die Treppe zu benutzen, um ihrer
Beschäftigung überhaupt nachgehen zu können, vermag allein das
unmittelbare Betriebsinteresse nicht zu begründen. Entscheidend ist
vielmehr, welche konkrete Verrichtung mit welcher Handlungstendenz der
Verletzte in dem Moment des Unfalls ausübte. Die Klägerin ist die Treppe
aber nicht hinabgestiegen, um ihre versicherte Beschäftigung auszuüben,
sondern um in der Küche Wasser zum Trinken zu holen und damit einer
typischen eigenwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. Dass gerade die
versicherte Tätigkeit ein besonderes Durstgefühl verursacht hätte und
die Klägerin betriebsbedingt veranlasst gewesen wäre, sich Wasser zu
besorgen, ist vom LSG weder festgestellt noch ersichtlich. Dem hier
gefundenen Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass das Zurücklegen
eines Wegs zum Ort der Nahrungsaufnahme grundsätzlich versichert ist.
Dies ist deshalb gerechtfertigt, weil der Weg zur Nahrungsaufnahme oder
zum Einkauf von Lebensmitteln für den alsbaldigen Verzehr in seinem
Ausgangs- und Zielpunkt durch die Notwendigkeit geprägt ist, persönlich
im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche
Tätigkeiten zu verrichten (BSG, 18.6.2013, B 2 U 7/12 R = SozR 4-2700
§ 8 Nr. 49). Gerade dies trifft bei der Klägerin nicht zu. Sie unterlag
hinsichtlich der beabsichtigten Nahrungsaufnahme keinen betrieblichen
Vorgaben oder Zwängen. Vielmehr stand es in ihrem Belieben, ob und wann
sie sich wegen des krankheitsbedingten Trinkbedürfnisses Wasser aus der
Küche holt. Dass die zu beobachtende Zunahme von Heimarbeit zu einer
Verlagerung von den Unternehmen dienenden Verrichtungen in den
häuslichen Bereich führt, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die
betrieblichen Interessen dienende Arbeit in der Wohnung eines
Versicherten nimmt einer Wohnung nicht den Charakter der privaten, nicht
versicherten Lebenssphäre. Die ihr innewohnenden Risiken hat nicht der
Arbeitgeber zu verantworten und vermag der Versicherte selbst am besten
zu beherrschen. Den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung ist es
außerhalb der Betriebsstätten ihrer Mitglieder (der Arbeitgeber) kaum
möglich, präventive, gefahrenreduzierende Maßnahmen zu ergreifen. Daher
ist es sachgerecht, das vom häuslichen und damit persönlichen
Lebensbereich ausgehende Unfallrisiko den Versicherten und nicht der
gesetzlichen Unfallversicherung, mit der die Unternehmerhaftung abgelöst
werden soll, zuzurechnen
SG Mainz
- S 5 U 222/12 -
LSG Rheinland-Pfalz
- L 3 U 171/14 -
Bundessozialgericht
- B 2 U 5/15 R -
3. Die Revision des
Klägers hatte keinen Erfolg. Das BSG hat lediglich eine
verfahrensrechtliche Korrektur des angegriffenen Urteils vorgenommen und
die vom Kläger erstmals vor dem LSG erhobene Klage auf Anerkennung einer
Wie-BK als unzulässig abgewiesen. Das LSG hatte ‑ soweit es mit der
Zurückweisung der Berufung das im Berufungsverfahren im Wege der
Klageänderung erstmalig erhobene Begehren auf Feststellung einer Wie-BK
ausgeurteilt hat ‑ die Unzulässigkeit dieser Klage verkannt.
Die
Anerkennung einer Listen-BK nach § 9 Abs 1 SGB VII iVm der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten Verordnung (BKV) einerseits und die Geltendmachung
einer Wie-BK gem. § 9 Abs 2 SGB VII andererseits stellen nach der
ständigen Rechtsprechung des Senats angesichts der unterschiedlichen
Voraussetzungen verschiedene Streitgegenstände dar (BSG, 27.6.2006,
B 2 U 77/06 B = SozR 4-1500 § 55 Nr 4; BSG, 2.12.2008, B 2 KN 3/07 U R =
SozR 4-2700 § 9 Nr 13). Nachdem der Kläger vor dem SG ausschließlich die
Anerkennung einer sog. "Listen-BK" nach Nr. 4115 der Anlage 1 zur BKV
beantragt und das SG diese Klage abgewiesen hatte, stellte die in der
mündlichen Verhandlung vor dem LSG erfolgte alleinige Beantragung der
Feststellung einer Wie-BK eine Klageänderung gem. § 99 Abs 1 SGG dar.
Diese war aufgrund der widerspruchslosen Einlassung der Beklagten
zulässig (§ 99 Abs 2 SGG).Die dadurch erhobene (geänderte) Klage war
jedoch unzulässig, weil die allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen, die
zum Zeitpunkt der Klageänderung für die geänderte Klage erfüllt sein
müssen(BSG, 18.3.2015, B 2 U 8/13 R), nicht vorliegen. Insbesondere ist
die Klagefrist (§ 87 SGG) nicht eingehalten. Dementsprechend hätte das
LSG die Klage als unzulässig abweisen müssen, was bei der
Zurückverweisung der Revision klarzustellen war.
SG Magdeburg
- S 8 U 15/10 -
LSG Sachsen-Anhalt
- L 6 U 70/12 -
Bundessozialgericht
- B 2 U 4/15 R -
4. Die Revision
des Klägers wurde zurückgewiesen. Das LSG hat zu Recht entschieden, dass
der Unfall auf dem Weg von der Arztpraxis zur Arbeitsstätte kein
Arbeitsunfall war. Der Kläger war als Lagerarbeiter und damit als
Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert, verrichtete
jedoch unmittelbar vor dem Unfallereignis keine versicherte Tätigkeit.
Er legte während des Überquerens der Straße unmittelbar vor dem
Unfallereignis weder einen versicherten Betriebsweg noch einen
versicherten Weg zur Arbeitsstätte zurück. Ein versicherter Betriebsweg
setzt voraus, dass ein Weg im unmittelbaren Betriebsinteresse
zurückgelegt wird. Auf einem solchen Weg befand sich der Kläger
unmittelbar vor dem Unfallereignis nicht, weil er die Arztpraxis
aufsuchte, um im eigenwirtschaftlichen Interesse die regelmäßig
erforderliche Kontrolle seiner Blutwerte zur Medikamenteneinstellung
durchführen zu lassen. Eine entsprechende arbeitsrechtliche
Verpflichtung hierzu bestand nicht und einer solchen wollte der Kläger
auch nicht nachkommen. Dass der Arbeitgeber den Arztbesuch gebilligt
hatte, begründete eine solche Pflicht nicht. Der mit dem Besuch der
Arztpraxis verfolgte Zweck diente dem eigenwirtschaftlichen Interesse
des Klägers und machte den Arztbesuch und den deshalb zurückgelegten Weg
nicht zu einer dem Beschäftigungsunternehmen dienenden Tätigkeit. Der
Kläger befand sich unmittelbar vor dem Unfallereignis auch nicht auf
einem nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weg zur Arbeitsstätte.
Zwar war seine Handlungstendenz zu diesem Zeitpunkt darauf gerichtet,
den Weg von der Arztpraxis zu seiner Arbeitsstätte zurückzulegen, um
dort seine versicherte Tätigkeit als Lagerarbeiter aufzunehmen. Er
bewegte sich jedoch unmittelbar vor dem Unfallereignis nicht auf dem
unter Versicherungsschutz stehenden direkten Weg zwischen seiner
Wohnung, von der er den Weg zunächst angetreten hatte, und dem Ort
seiner Tätigkeit, sondern hatte diesen Weg verlassen und unmittelbar vor
dem Unfallereignis auch noch nicht wieder erreicht. Der Kläger legte
auch keinen gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weg zur
Arbeitsstätte von einem anderen Ort als der Wohnung, einem sog. dritten
Ort, zurück. Er hielt sich nämlich lediglich 40 Minuten in der
Arztpraxis auf, ein Aufenthalt von mindestens zwei Stunden war auch
nicht geplant. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats besteht
Unfallversicherungsschutz auf einem Weg von einem anderen Ort als dem
Ort der Wohnung zur Arbeitsstätte u.a. dann, wenn der Aufenthalt an dem
dritten Ort "angemessen" ist (Entfernung, Zweck) und der tatsächliche
oder geplante Aufenthalt des Versicherten an diesem sog. dritten Ort
mindestens zwei Stunden dauert (BSG, 5.5.1998, B 2 U 40/97 R = BSGE 82,
138). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Wege, die nicht
unmittelbar zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte zurückgelegt
werden, sondern aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen oder in
eine andere Richtung hin verlassen wurden und dann von einem anderen Ort
aus fortgesetzt werden, sind abzugrenzen von versicherten Wegen von
einem sog. dritten Ort zur Arbeitsstätte. Hierzu dient u. a. die
Zwei-Stunden-Grenze. Es ist nicht ersichtlich, dass für die
erforderliche Abgrenzung ein anderes Kriterium praktikabler oder
angemessener wäre. Auch bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken
gegen diese richterrechtliche Grenzziehung.
SG Regensburg
- S 5 U 232/12 -
Bayerisches LSG
- L 2 U 180/13 -
Bundessozialgericht
- B 2 U 16/14 R -