Verknüpftes Dokument, siehe auch: Urteil des 2. Senats vom 26.10.2017 - B 2 U 6/16 R -, Urteil des 2. Senats vom 26.10.2017 - B 2 U 1/15 R -, Urteil des 2. Senats vom 20.7.2010 - B 2 U 7/10 R -
Kassel, den 26. Oktober 2017
Terminbericht Nr. 51/17
(zur Terminvorschau Nr. 51/17)
Der 2. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 26. Oktober 2017.
1) Die Revision der Klägerin war erfolgreich.
Die Bescheide der Beklagten, mit denen die Klägerin für
Beitragsrückstände der S-GbR in Haftung genommen wurde, sind
rechtswidrig. Nach § 150 Abs 3 S 1 SGB VII iVm § 28e Abs 3a S 1 Alt 1
SGB IV, jeweils in der seit dem 1.8.2002 geltenden Fassung, haftet ein
Unternehmer des Baugewerbes, der einen anderen Unternehmer mit der
Erbringung von näher beschriebenen Bauleistungen beauftragt, für die
Erfüllung der Zahlungspflicht dieses Unternehmers wie ein
selbstschuldnerischer Bürge. Gemäß § 28e Abs 3d S 1 SGB IV in seiner bis
zum 30.9.2009 geltenden und hier gemäß § 116 a SGB IV anwendbaren
Fassung galt § 28e Abs 3a SGB IV ab einem geschätzten Gesamtwert aller
für ein Bauwerk in Auftrag gegebenen Bauleistungen von 500 000 Euro. Die
Klägerin ist zwar ein Unternehmen des Baugewerbes, das sich mit der
S-GbR eines Nachunternehmers bedient hat und damit grundsätzlich der
Bürgenhaftung für deren Unfallversicherungsbeiträge unterliegt, jedoch
wurde der Grenzwert des § 28e Abs 3d S 1 SGB IV nicht überschritten.
Sofern das LSG diesen Grenzwert im Hinblick auf das Volumen des
Auftrags, den die Bauherrin der Klägerin zur Erstellung des Rohbaus als
"Bauwerk" erteilt hat (Nettoauftragssumme 1 042 484,50 Euro), als
überschritten angesehen hat, entspricht dies zwar vordergründig der
bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats aus den Jahren 2008 und
2010. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass die Klägerin den Rohbau
größtenteils selbst errichtet hat und nur die Bodenplatte
(Nettoauftragssumme 19 777,47 Euro) im Wege der Fremdvergabe durch ein
Nachunternehmen fertigen ließ, also nicht als Generalunternehmer tätig
wurde, der typischerweise sämtliche Bauleistungen fremdvergibt. Für das
Überschreiten des Grenzwertes des § 28e Abs 3d S 1 SGB IV kommt es - wie
der erkennende Senat bereits entschieden hat - nicht allein auf den Wert
des Auftragsvolumens zwischen Hauptunternehmer und den konkret
ausgefallenen Nachunternehmern an (Urteile vom 27.5.2008 - B 2 U 11/07 R
- BSGE 100, 243 = SozR 4-2700 § 150 Nr 3 sowie B 2 U 21/07 R - UV-Recht
Aktuell 2008, 1162). Anknüpfungspunkt ist vielmehr nach dem Wortlaut und
der Systematik des § 28e SGB IV - hier insbesondere des
Regelungszusammenhangs zwischen Absatz 3a und 3d - der (Gesamt-)Wert der
Bauleistungen, die ein Bauunternehmer bezogen auf die Erstellung des vom
Bauherrn in Auftrag gegebenen Bauwerks an (alle) Nachunternehmer
vergeben hat. Das "Bauwerk" wird durch die Vertragsbeziehung zwischen
Bauherrn und Hauptunternehmer bestimmt (vgl BSG vom 20.7.2010 -
B 2 U 7/10 R - SozR 4-2700 § 150 Nr 5) und war hier der für eine
Nettoauftragssumme von 1 042 484,50 Euro von der Klägerin zu fertigende
Rohbau eines Ärztehauses im Gesamtwert von ca 3,6 Mio Euro. Die durch
die Klägerin an Nachunternehmer vergebenen Bauleistungen betrugen nach
den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG bei einer
Nettoauftragssumme von 19 777,47 Euro jedoch nur ca 2% des Wertes des
Rohbaus iH von ca 1 Mio Euro und erreichten den hier geltenden Grenzwert
von 500 000 Euro nicht. Diese Auslegung des § 28e Abs 3d SGB IV
entspricht den gesetzgeberischen Zielen, einerseits die Hauptunternehmer
zu veranlassen, dafür Sorge zu tragen, dass Nachunternehmer ihren
sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten nachkommen (BT-Drs
14/8221 S 15), und andererseits zum Schutz mittelständischer
Bauunternehmen und Handwerksbetriebe diese Haftung erst ab einem
bestimmten Volumen der risikobegründenden Fremdaufträge beginnen zu
lassen. Sie steht in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des
Senats in seinem Urteil vom 20.7.2010 (B 2 U 7/10 R - SozR 4-2700 § 150
Nr 5). Auch wenn dort letztlich auf den Wert eines zu erstellenden
Reihenhauses abgestellt wurde, handelte es sich zum einen um die
Fallgestaltung der kompletten Fremdvergabe der Bauleistungen durch einen
Generalunternehmer, bei der der Wert des sich aus dem Inhalt der
Vertragsbeziehung zwischen dem Bauherrn und dem Hauptunternehmer
ergebenden Bauwerks mit dem maßgebenden Wert der an Nachunternehmer
vergebenen Fremdleistungen identisch war. Zum anderen unterschritt der
Wert dieses Bauwerks und damit auch der Wert der fremdvergebenen
Bauleistungen den Grenzwert des § 28e Abs 3a S 1 Alt 1 SGB IV .
SG Ulm
- S 10 U 1939/11 -
LSG Baden-Württemberg
- L 3 U 3062/12 -
Bundessozialgericht
- B 2 U 1/15 R -
2) Die Revision
der Beklagten hatte keinen Erfolg. Entgegen der Auffassung der Beklagten
war das Revisionsverfahren nicht bis zur Bestandskraft des während des
Revisionsverfahrens erlassenen sog Abschmelzungsbescheides vom 12.4.2016
auszusetzen. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 114 SGG
lagen nicht vor. Es kann dahinstehen, ob dieser Bescheid einen
angefochtenen Verwaltungsakt iS von § 96 SGG abänderte oder ersetzte,
der Gegenstand des Revisionsverfahrens war, und deshalb gemäß § 171 SGG
als mit der Klage beim SG angefochten galt. Von einer Entscheidung über
seine Rechtmäßigkeit konnte die Revisionsentscheidung bereits deshalb
nicht iS des § 114 SGG abhängen, weil er nur für die Zukunft Wirkung
entfalten konnte und für die Entscheidung des Senats auf die Sach- und
Rechtslage zur Zeit der mündlichen Verhandlung vor dem LSG abzustellen
war.
Zu Recht hat das LSG die Beklagte unter Aufhebung der
ablehnenden Bescheide vom 4.8.2005 und 6.12.2005 verurteilt, unter
teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 24.3.2005 und Anerkennung eines
komplexen regionalen Schmerzsyndroms des linken Armes als mittelbare
Unfallfolge eine Verletztenrente ab 1.1.2001 nach einer MdE von 60 vH zu
gewähren. Die Beklagte war gemäß § 44 Abs 1 SGB X verpflichtet, den
Bescheid vom 24.3.2005 teilweise zurückzunehmen, weil sie bei seinem
Erlass das Recht unrichtig angewandt und deshalb eine Unfallfolge nicht
anerkannt sowie der Klägerin eine zu geringe Verletztenrente bewilligt
hatte. Die Klägerin konnte die begehrte Abänderung des Bescheides im
Überprüfungsverfahren nach § 44 Abs 1 SGB X verfolgen, selbst wenn der
Bescheid vom 24.3.2005 wegen § 66 Abs 2 S 1 Halbs 2 Alt 2 SGG nicht
bestandskräftig geworden sein sollte. Denn auch in diesem Fall ist eine
Überprüfung gemäß § 44 SGB X zulässig, auch wenn der
Sozialleistungsberechtigte fristgemäß Widerspruch hätte einlegen können.
Der Anwendung des § 44 SGB X stand auch nicht entgegen, dass das SG die
Klage auf eine höhere Rente mit rechtskräftigem Urteil vom 25.2.2003
abgewiesen hatte, weil die Rechtskraft eines die Klage gegen einen
Bescheid abweisenden Urteils grundsätzlich eine Abänderung dieses
Bescheides gemäß § 44 SGB X nicht ausschließt. Zutreffend hat das LSG
einen Anspruch der Klägerin auf Abänderung des Bescheides vom 24.3.2005
bejaht. Zwar hatte die Beklagte in diesem Bescheid bindend einen
Arbeitsunfall der Klägerin, als dessen Folgen den operativ versorgten
Bandscheibenvorfall zwischen dem 5. und 6. Halswirbelkörper mit weiteren
Gesundheitsstörungen und einen Rentenanspruch nach einer MdE von 20 vH
anerkannt, zu Unrecht jedoch die Anerkennung einer weiteren Unfallfolge,
nämlich des komplexen regionalen Schmerzsyndroms des linken Armes, und
die Gewährung einer Rente nach einer höheren MdE abgelehnt. Nach den den
Senat bindenden Feststellungen des LSG bestand bereits mindestens seit
Januar 2001 neben den in diesem Bescheid bindend anerkannten
Unfallfolgen ein durch die Operationen verursachtes komplexes regionales
Schmerzsyndrom des linken Armes, das nach den hier noch anwendbaren
Vorschiften der §§ 547 ff RVO als mittelbare Unfallfolge anzuerkennen
war und einen Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 60 vH
begründete. Selbst wenn die Beklagte zu Unrecht den operativ versorgten
Bandscheibenvorfall als Schädigungsfolge sowie den Rentenanspruch nach
einer MdE von 20 vH anerkannt hätte, stünde dies der Bindungswirkung des
insoweit begünstigenden Teils des Bescheides vom 24.3.2005 nicht
entgegen. Die Bindungswirkung besteht fort, weil der Bescheid bis zur
mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 30.9.2015 nicht aufgehoben wurde.
Der sog Abschmelzungsbescheid vom 12.4.2016 mit Wirkung für die Zukunft
erging erst nach diesem Zeitpunkt.
SG Schwerin
- S 5 U 4/06 -
LSG Mecklenburg-Vorpommern - L 5 U 35/09 -
Bundessozialgericht
- B 2 U 6/16 R -