Verknüpftes Dokument, siehe auch: Urteil des 8. Senats vom 15.11.2012 - B 8 SO 23/11 R -, Urteil des 10. Senats vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R -
Medieninformation Nr. 25/15
zur 47. Richterwoche des Bundessozialgerichts
Anlässlich der Eröffnung der 47. Richterwoche konnte der Präsident des Bundessozialgerichts
Peter M a s u c h
zahlreiche Gäste begrüßen, unter ihnen die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales Anette K r a m m e, die Hessische Ministerin der Justiz Eva K ü h n e ‑ H ö r m a n n sowie den Oberbürgermeister der Stadt Kassel Bertram H i l g e n. Den Eröffnungsvortrag hielt der Verantwortliche Redakteur für Zeitgeschehen sowie Staat und Recht der Frankfurter Allgemeine Zeitung Dr. Reinhard M ü l l e r.
Die diesjährige Richterwoche
steht unter dem Thema
"Qualitätssicherung -
Herausforderungen in der Sozialrechtsprechung".
Die Vorträge spannen einen Bogen von den
Anforderungen an die Richterpersönlichkeit über die organisatorische
Ausgestaltung des sozialgerichtlichen Verfahrens und die
Wissensgewinnung im Gerichtsprozess bis hin zu Fragen der Kontrolle der
Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren. Zu der 47. Richterwoche
referieren: Joachim Nieding, Präsident des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen: "Personalauswahl in der
Sozialgerichtsbarkeit"; Dr. Thomas Flint, Richter am
Bundessozialgericht: "Anforderungen an Richter der
Sozialgerichtsbarkeit und Selbstverständnis"; Stefan Knittel,
Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg:
"Wissensgewinnung und Aufarbeitung des Prozessstoffs in der
Sozialgerichtsbarkeit - Qualitätssicherung"; Pablo Coseriu,
Richter am Bundessozialgericht und Hans-Christian Jakob,
Richter am Thüringer Landessozialgericht: "Ausgewählte Probleme der
Beweiserhebung und Wissensgewinnung"; Dr. Steffen Luik,
Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg: "Sicherung der
verfahrens- und verfassungsrechtlichen Standards bei
Kommunikationsschwierigkeiten mit Prozessbeteiligten"; Dr. Ruth
Düring, Richterin am Bundessozialgericht und Dr. Reimar
Buchner, Rechtsanwalt, Berlin: "Qualitätssicherung durch
Gewährleistung eines Instanzenzuges"; Dr. Malte Graßhof,
Vizepräsident des Verwaltungsgerichts, Karlsruhe: "Eignung, Leistung und
Befähigung - Anspruch und Wirklichkeit - Beurteilungen und
dienstrechtliche Aufsicht".
Präsident Masuch
führte aus, die 47. Richterwoche des Bundessozialgerichts greife
zentrale Handlungsfelder für qualitätvolle Rechtsprechung auf. Gutes
Recht in angemessener Zeit sei eine Dienstleistung am Bürger, die den
Richterinnen und Richtern anvertraut ist. Im Sinne einer Selbstreflexion
stelle sich die Sozialgerichtsbarkeit der Frage, welche richterlichen
Arbeitsweisen sich bewährt hätten und wo noch Verbesserungsbedarf
bestehe. Zehn Jahre nach dem Beschluss der Justizministerkonferenz zur
"Großen Justizreform" am 29./30. Juni 2005 in Dortmund, der die
Qualitätssicherung als eine der zentralen Herausforderung für die
Zukunft der Justiz benannte, bedürften Anspruch und Wirklichkeit guter
Rechtsprechung einer kritischen Würdigung. Dies betreffe auch die auf
der Tagung damals geforderten Anforderungsprofile und aussagekräftige
Beurteilungssysteme im Sinne einer effektiven und transparenten
Personalauswahl.
Thesen der Referenten zur Richterwoche
Joachim Nieding
Dr. Thomas Flint
Stefan Knittel
Dr. Steffen Luik
Dr. Ruth Düring
Dr. Reimar Buchner
Dr. Malte Graßhof
Präsident des
Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen
A.
Von der Juristenschwemme zur Juristendürre
Die quantitative Seite:
10710 ( im Jahr 1999) / 7491 (2013) erfolgreich
geprüfte
Referendarinnen und Referendare (Bund)
Die qualitative Seite:
Prädikatsexamen 2014 in NRW: 365
Einstellungsbedarf in der gesamten Justiz NRW in
2014: 333
Was tun?
Perspektivwechsel:
Was wollen Juristinnen und Juristen von der Justiz?
Insbesondere:
Was wollen Juristinnen von der
Justiz?
Antworten in Stichworten:
Professionalisierung der Werbung. Mit dem Pfund der Justiz wuchern.
Rahmenbedingungen verbessern: Teilzeit, Erprobungen in Teilzeit,
Verwaltungsdezernate und Führungspositionen in Teilzeit und Jobsharing,
Nachzeichnen von Beurteilungen
B. Intermezzo zur Personalentwicklung
Mobilität und Gespräche
C. Bundesrichterwahlen
Das ewige Thema
Jumiko-Beschluss 2015
Reformansätze:
Verstärkung von kooptativen
Elementen und verstärkte Berücksichtigung des Leistungsprinzips
Beteiligung von Richterinnen und
Richtern im Richterwahlausschuss
Ausschreibung, Anforderungsprofile,
Anhörung im Richterwahlausschuss, Begründung, Rolle des Präsidialrats
Richter am
Bundessozialgericht
"Anforderungen an Richter der Sozialgerichtsbarkeit
und
Selbstverständnis"
Johann Peter Hebel, Willige Rechtspflege,
1815
Als ein neu
angehender Beamter zu Zeiten der Republik das erstemal zu Recht saß,
trat vor die Schranken seines Richterstuhls der untere Müller,
vortragend seine Beschwerden gegen den obern in Sachen der
Wasserbaukosten. Als er fertig war, erkannte der Richter: »Die Sache ist
ganz klar. Ihr habt recht.« Es verging eine Nacht und ein Räuschlein,
kam der obere Müller und trug sein Recht und seine Verteidigung auch
vor, noch mundfertiger als der untere. Als er ausgeredet hatte, erkannte
der Richter: »Die Sache ist so klar als möglich. Ihr habt vollkommen
recht.« Hierauf, als der Müller abgetreten war, nahte dem Richter der
Amtsdiener. »Gestrenger Herr«, sagte der Amtsdiener, »also hat Euer Herr
Vorfahrer nie gesprochen, solange wir Urteil und Recht erteilten. Auch
werden wir dabei nicht bestehen. Es können nicht beide Parteien den
Prozeß gewinnen, sonst müssen ihn auch beide verlieren, welches nicht
gehn will.« Darauf antwortete der Beamte: »So klar war die Sache noch
nie. Du hast auch recht.«
Dazu: Michael Stolleis, Der
menschenfreundliche Ton. Zwei Dutzend Geschichten von Johann Peter Hebel
mit kleinem Kommentar, 2003, S. 80-81
Es waren
revolutionäre Zeiten, »zu Zeiten der Republik« (1793-1804). Hebel
verlegt seine Geschichte, die im Hausfreund von 1815 erschien, nach
Frankreich. Neue, schlecht oder gar nicht ausgebildete Richter kamen auf
die Richterstühle und ließen sich, so scheint es hier jedenfalls, von
jedem eloquenten Sachvortrag beeindrucken. Sie schwankten im Wind und
wichen den notwendigen Entscheidungen aus. Wer zuletzt sprach, bekam
Recht. Auch lagen im konkreten Fall zwischen den Anhörungen der Parteien
offenbar »Räuschlein« des mitleiderregenden republikanischen Richters.
Gleichwohl »naht«
sich hier der alte Amtsdiener und redet diese schwache Figur mit
»Gestrenger Herr« an, während der Richter herablassend mit »Du«
antwortet. Der Amtsdiener, der gewiß mehr praktische Jurisprudenz
beherrschte als der Richter, ist allerdings nur scheinbar unterwürfig.
Er belehrt den Richter mit trockenen Worten und erinnert an die früheren
Zeiten, »solange wir Urteil und Recht erteilten«, also er selbst und der
vorhergehende Richter. Dieser Logik muß sich der neue Richter
unterwerfen. Aber damit bleibt der Fall in der Schwebe; denn daß es so
»nicht gehen will« ist klar, aber wie soll es gehen? Der Richter steht
wieder am Anfang, muß sich den Fall erneut vornehmen und vor allem
›Recht gewähren‹, das ist seine Amtspflicht; eine Entscheidung kann er
vielleicht verschleppen oder durch einen Vergleich vermeiden. Verweigern
darf er sie letztlich nicht.
Zum Nachlesen:
Thomas Flint, Vom
Beruf des Richters; in: Jakob Nolte/Ralf Poscher/Henner Wolter (Hrsg.),
Die Verfassung als Aufgabe von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit.
Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2014,
S. 189‑201;
in anderer
Fassung: Vom Beruf des Richters; in: Scheidewege. Jahresschrift für
skeptisches Denken, Band 45, Jahrgang 2015/2016, S. 324-334
Vorsitzender Richter am
LandessozialgerichtBaden-Württemberg
"Wissensgewinnung und Aufarbeitung des Prozessstoffs in der
Sozialgerichtsbarkeit - Qualitätssicherung"
Inhalt
1. Qualitätssicherung
2. Die Mitwirkung des Klägers bei der
Feststellung des Sachverhalts
3. Erkenntnisse aus dem Verwaltungsverfahren
4. Die richtige Abfolge der Ermittlungen
5. Konsistenzprüfung
6. Ermittlung medizinischer
Anknüpfungstatsachen
6.1. Vernehmung der behandelnden Ärzte als
sachverständige Zeugen
6.2. Arztbriefe
6.3. Atteste und vergleichbare
Bescheinigungen
7. Beweisaufnahme durch Sachverständige
7.1. Auswahl des Sachverständigen
7.2. Sachkunde
7.3. Neutralität und Objektivität
7.4. Pflicht zur persönlichen Untersuchung
8. Leitung des Sachverständigen durch das
Gericht
8.1. Streitiger Sachverhalt
8.2. Übersendung der Akten an den Gutachter
8.3. Fragen an den Sachverständigen
8.4. Sonderfall: Glaubhafterscheinen
8.5. Kausalitätsbeurteilungen
9. Aufklärung und Feststellung genereller
Tatsachen
10. Zusammenfassung
· Die
Wissensgewinnung und Aufarbeitung des Prozessstoffes in der
Sozialgerichtsbarkeit erfolgt mit Hilfe gerichtlicher Sachverständiger,
da dem Gericht idR die für die Beurteilung medizinischer Vorgänge
notwendige Sachkunde fehlt.
· Obwohl
die Einholung von Sachverständigengutachten ein alltäglicher Vorgang
ist, sollten bestimmte Grundsätze beachtet werden, damit unter
Vermeidung unnötiger Beweiserhebungen eine zügige und dennoch umfassende
Aufklärung gelingt. Hierzu gehören die Ermittlung von medizinischen
Anknüpfungstatsachen sowie die für die Steuerung des Sachverständigen
notwendige Aufklärung des nicht medizinisch geprägten Sachverhalts (z.B.
Unfallhergang, Expositionen und Belastungen im Beruf, bisheriger
Gesundheitszustand) in zeitlich sinnvoller Abfolge.
· Oft ist die
Anhörung des Beteiligten notwendig, obwohl es die Parteivernehmung als
Beweismittel im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gibt. Das Gericht
kann im Einzelfall Feststellungen allein auf die Angaben des Beteiligten
stützen, darf diese allerdings keinesfalls ungeprüft und kritiklos
übernehmen.
· Die
Angaben des Beteiligten stehen auch bei der medizinischen
Sachverhaltsaufklärung im Mittelpunkt, da relativ häufig psychische
Gesundheitsbeschwerden beurteilt werden müssen. Deshalb kommt der
Konsistenzprüfung bei der Erstellung von Gutachten eine zentrale
Bedeutung zu.
· Eine
nicht selten anzutreffende Anpassung des Beteiligtenvorbringens an die
vom Sachverständigen geforderten Maßstäbe erschwert eine zutreffende
Beurteilung des Sachverhalts sowohl für den Sachverständigen als auch
für das Gericht. Eine große Anzahl von Gutachten ist daher kein Indiz
für eine gründliche Sachverhaltsermittlung.
· Die
Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer versicherten
Tätigkeit bzw. einem schädigenden Ereignis und eines Gesundheitsschadens
erfolgt nach der Theorie der wesentlichen Bedingung, die allerdings nach
hier vertretener Ansicht nur in der vom 2. Senat des BSG vorgenommenen
Modifizierung Zufallsergebnisse wirksam verhindern kann.
· Das
Konzept der generellen Tatsachen ist sinnvoll, darf aber nicht dazu
führen, dass die Revisionsinstanz ihre Bindung an die Feststellungen der
Tatsachengerichte umgeht.
· Es bleibt dabei: Der
Sachverhalt entscheidet den Fall und dessen Aufklärung und Feststellung
ist Aufgabe der Tatsachengerichte.
Dr. Steffen Luik
Richter am Landessozialgericht Baden-Württemberg
"Sicherung der verfahrens- und
verfassungsrechtlichen Standards bei Kommunikationsschwierigkeiten
mit Prozessbeteiligten"
I.
Einleitung: Gewandeltes Verständnis des Verhältnisses Staat-Bürger
nach 1945
Nach 1945 hat sich in der
Bundesrepublik das Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und
Bürger grundlegend gewandelt. In einem Gemeinwesen, das auf der
Mitwirkungs- und Handlungsfähigkeit seiner Bürger begründet ist, wird
der sich „einmischende“ Bürger, der Kritik an den bestehenden
Verhältnissen übt, nicht mehr als Störenfried, sondern durchaus positiv,
auch als nützliches Instrument zur Kontrolle der Verwaltung gesehen.
Richterinnen und Richter üben Staatsgewalt aus und sind
Staatsbürger(innen) in
Robe.
II.
Verfahrens- und verfassungsrechtliche Standards und Garantien
Die Bundesrepublik hat durch den
Justizgewährungsanspruch des Art. 19 Abs. 4 GG eine besondere Prägung
erfahren. „Der Rechts-Staat schützt sich selbst als
Rechtsprechungs-Staat.“ (Jahrreiß/Zinn). Aus Art. 19 Abs. 4 GG
und dem Rechtsstaatsprinzip werden u.a. abgeleitet: der Anspruch auf
effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren sowie die richterliche
Grundpflicht zur stringenten und beschleunigten Verfahrensgestaltung
(Beschleunigungsgebot). Die zügige Erledigung eines Rechtsstreits ist
kein Selbstzweck, sondern das Rechtsstaatsprinzip verlangt die
grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des
Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht (BSG 03.09.2014 – B 10
ÜG 12/13 R).
Die „besondere Klägerzentriertheit des
sozialgerichtlichen Verfahrens gewährleistet dem Versicherten bei
niedriger Zugangsschwelle und größtmöglicher Waffengleichheit in
Lebensbereichen, die seine materielle Existenz häufig unmittelbar
betreffen, Rechtsschutz gegen eine hoch spezialisierte Verwaltung zu
erhalten“ (BT-Drs. 16/7716, S. 12). Art. 19 Abs. 4 GG ist verletzt,
„wenn formale Strenge im Prozeß ohne erkennbar schutzwürdigen Zweck
praktiziert wird“ (BSG 10.08.1995 - 11 RAr 51/95).
Der Anspruch
auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG) dient dadurch dem
Finden einer guten Entscheidung, dass der Richter im Dialog mit den
Beteiligten notwendige Informationen für die Rechtsfindung erlangt. Er
gewährleistet, dass jeder Beteiligte sich vor Erlass der Entscheidung
zum Prozessstoff, d.h. zum Sachverhalt und zur Rechtslage äußern kann
und gehört wird. Der Einzelne darf nicht Objekt des Verfahrens sein.
Auch Menschen mit Behinderungen muss vor Gericht die gleichberechtigte
Teilhabe ermöglicht werden (barrierefreie Kommunikation, §§ 186, 191a
GVG).
Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG garantiert, dass der Rechtsuchende im
Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist
und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den
Verfahrensbeteiligten bietet (BVerfG 06.05.2010 - 1 BvR 96/10).
Zu
einer funktionsfähigen Rechtspflege gehört eine angemessene
Personalausstattung der Gerichte (BVerfG 17.11.1999 – 1 BvR 1708/99).
III.
Kommunikation, Störungen, Auswege/Lösungen
Die Kommunikation (lat. communicatio,
Mitteilung) des Gerichts mit den Beteiligten ist Gegenstand mehrerer
Verfahrensnormen (vgl. etwa §§ 106 Abs. 1, 112 Abs. 2 SGG). „Eine
offene, kommunikative Verhandlungsführung kann der Verfahrensförderung
dienlich sein und ist daher heute selbstverständliche Anforderung an
eine sachgerechte Prozessleitung“ (BVerfG 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 –
Rn. 106).
Die analytisch-gutachterliche Kompetenz von Juristen allein
reicht nicht zur Lösung von Konflikten. Der Umgang mit Menschen verlangt
nach Sensibilität für die persönlichen Dimensionen des Konflikts. Neben
den hard skills sind daher auch soft skills (§ 5a Abs. 3 S. 1 DRiG) und
soziale Kompetenz (§ 9 Nr. 4 DRiG) erforderlich, dazu gehört insb.
Bürgerfreundlichkeit im Auftreten und in der Sprache.
Dem
institutionellen Schutz der richterlichen Unabhängigkeit korrespondiert
die Verpflichtung, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auch dann zu
erhalten und zu verwirklichen, wenn äußere Einflüsse dies erschweren
(„innere“ Unabhängigkeit). Wir müssen zwar die Erledigungszahlen
beherrschen, aber wir sollten uns nicht vom Erledigungsdruck beherrschen
lassen.
Nur in Ausnahmefällen sind Ordnungsmittel (§§ 176 ff. GVG)
und Missbrauchskosten (§ 192 SGG) in Betracht zu ziehen.
IV.
Sonderfall: Prozessuale Handlungsunfähigkeit (Prozessunfähigkeit) und
besonderer Vertreter
Prozessunfähig ist eine Person, die sich
nicht durch Verträge verpflichten kann. Eine Störung der
Geistestätigkeit, die die freie Willensbestimmung ausschließt und es
Betroffenen unmöglich macht, ihre Entscheidungen von vernünftigen
Erwägungen abhängig zu machen (§ 104 Nr. 2 BGB), ist die Ausnahme,
weshalb das Gericht regelmäßig von der Prozessfähigkeit ausgehen kann.
Der Begriff „Querulanz“ bringt diesbezüglich keinen Mehrwert, er wird
teils im medizinischen Sinne, teils umgangssprachlich verwendet,
obgleich es an Kriterien/Maßstäben fehlt.
Nur in Ausnahmefällen
bei konkreten Anhaltspunkten muss von Amts wegen unter Anhörung des
Betroffenen ermittelt werden (i.d.R. durch Sachverständigengutachten).
Str. ist, was im Rahmen der Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) bei sog.
„Restzweifeln“ zu geschehen hat.
Nicht mit der Prüfung der
Prozessfähigkeit vermengt werden dürfen andere Fragen, etwa nach dem
Rechtsschutzbedürfnis (bzw. Unzulässigkeit wegen Rechtsmissbrauchs) oder
ob überhaupt eine Klage vorliegt, die bearbeitet werden und in das
Prozessregister eingetragen werden muss (vgl. BSG 12.02.2015 - B 10 ÜG
8/14 B - Rn. 7; BSG 21.05.2007 – B 1 KR 4/07 S – Rn. 7).
Falls
Prozessunfähigkeit vorliegt, muss sichergestellt werden, dass der
Betroffene entweder einen gesetzlichen Vertreter erhält oder es muss ein
besonderer Vertreter nach § 72 Abs. 1 SGG bestellt werden.
§ 72
Abs. 1 SGG dient der Verwirklichung prozessualer Rechte
Prozessunfähiger. Erst die Vertreterbestellung macht den Rechtsschutz
wirklich zugänglich. Ausnahmen von der Vertreterbestellung sind nur
zulässig, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel
eines Prozessunfähigen „offensichtlich haltlos“ ist (BSG 15.11.2012 –
B 8 SO 23/11 R). Hierfür reicht nicht aus, dass ein vom Prozessunfähigen
geltend gemachter Anspruch für unbegründet erachtet wird, da regelmäßig
erst der Vertreter anstelle des prozessual handlungsunfähigen Klägers
einen anspruchsbegründenden oder weitere Ermittlungen auslösenden
Sachvortrag liefern kann.
Die Gerichte müssen die Amtsführung
besonderer Vertreter kontrollieren und im Rahmen ihrer den Beteiligten
gegenüber bestehenden Fürsorgepflicht darauf achten, ob deren
prozessuale Handlungen pflichtgemäß sind (BSG 14.11.2013 - B 9 SB 84/12
B).
Dr. Ruth
Düring
Richterin am Bundessozialgericht
"Qualitätssicherung durch Gewährleistung
eines Instanzenzuges"
I. Allgemeine Überlegungen
1. Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt:
Der Justizgewährungsanspruch sowie die Spezialvorschrift des Art 19 Abs
4 GG geben keine Garantie eines Instanzenzuges.
2. Gemeinsame
Qualitätskriterien aller Instanzen - mit unterschiedlichen Schwerpunkten
-:
a) Steuerung durch Verfahrensrecht, "Qualität durch Verfahren",
b) Mündliche und schriftliche Kommunikation mit den Beteiligten
während des
Prozessgeschehens und bei seinem
Abschluss,
c) Umfassende Prüfung und Bewertung in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht,
d) Verfahrensdauer, Beendigung des Verfahrens
in angemessener Zeit,
e) Einheitlichkeit und Verlässlichkeit der
Rechtsprechung.
II. Qualitätssicherung durch
Nichtzulassungsbeschwerde
1. Revision muss entweder vom
LSG oder SG oder auf NZB vom BSG selbst zugelassen worden sein.
Angesichts einer eher restriktiven Zulassungspraxis der LSG kommt der
Behandlung von NZB durch das BSG besondere Bedeutung zu. Das
Rechtsmittel der NZB ist ein Instrument der internen Kontrolle darauf,
ob das LSG die Maßstäbe für die Zulassung verkannt oder Verfahrensfehler
gemacht hat.
2. Die NZB machen einen erheblichen Teil der Arbeit
des BSG aus. Ihr Anteil ist in den einzelnen Senaten allerdings
unterschiedlich. In den letzten 12 Monaten wurden insgesamt 2141 NZB
entschieden, davon wurden ca 3/4 als unzulässig verworfen. Stattgegeben,
dh die Revision zugelassen, wurde in 77 Fällen, in 43 Fällen wurde die
NZB als unbegründet zurückgewiesen.
3. Die Kriterien für die
Zulässigkeit von NZB sind im Gesetz nur rudimentär vorgegeben. Das BSG
hat die Anforderungen an die Darlegung der einzelnen Zulassungsgründe -
grundsätzliche Bedeutung, Divergenz, Verfahrensmangel - jeweils näher
konkretisiert. Dabei sind die Ansprüche an das Vorbringen des/der
Prozessbevollmächtigten sehr hoch. Das BVerfG hat die
Darlegungsanforderungen bislang nicht beanstandet.
4. Die
Herangehensweise und die Auslegung der einzelnen Zulässigkeitskriterien
sind in den Senaten sehr unterschiedlich; es besteht keine einheitliche
Rechtspraxis. Von der Beurteilung der Zulässigkeit der NZB hängt auch
die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter ab, die an einer Verwerfung
nicht beteiligt sind. Sowohl bei der Verwerfung als auch bei der
Zurückweisung ermöglicht nur eine Begründung der Entscheidung eine
externe Kontrolle. Seine qualitätssichernde Funktion im Instanzenzug
kann das Verfahren der NZB nur erfüllen, wenn die
Darlegungsanforderungen nicht zu hoch (Stichwort: Durchschnittliche
Rechsanwalt
Insbesondere: Das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
und Ergebnisqualität. Der Sicherung der
Ergebnisqualität dient namentlich der Instanzenzug im
sozialgerichtlichen Verfahren.
2. Den Schwerpunkt der Qualitätsdiskussion im Hinblick auf die
Rechtsprechung bilden dementsprechend weniger defizitäre gesetzliche
Vorgaben oder deren mangelhafte Einhaltung als vielmehr außerrechtliche
Faktoren wie das Auftreten des Gerichts in der mündlichen Verhandlung,
die Verfahrensdauer, die Überzeugungsqualität der gerichtlichen
Entscheidung und der Umgang mit den Verfahrensbeteiligten. Gerade im
Hinblick auf die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen bei der
unterliegenden Partei sind diese Faktoren von wesentlicher Bedeutung.
3. Teil des qualitätssichernden Instanzenzugs ist auch die
Nichtzulassungsbeschwerde. Allerdings hat das Beschwerdeverfahren
Filterfunktion und dient auch der Entlastung der Revisionsinstanz. Die
Zulassung der Revision kann deshalb nur bei Eingreifen der gesetzlich
geregelten Revisionsgründe erfolgen, die auf die Grundsatz-, Divergenz-
und Verfahrensrüge beschränkt sind. Erst nach Zulassung der Revision
findet die qualitätssichernde rechtliche Überprüfung der Entscheidung
des Landessozialgerichts durch das Bundessozialgericht statt. Für das
Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ist aufgrund der Auswertung der
amtlichen Statistik die hohe Zahl der als unzulässig verworfenen
Nichtzulassungsbeschwerden bemerkenswert (2014: 91,6 % der durch
Beschluss erledigten Beschwerden). Damit ist rechtlich die Frage
aufgeworfen, ob die Hürde für den Erfolg der Beschwerde und damit den
Zugang zur Revisionsinstanz zu hoch ist.
a) Die hohe Zahl unzulässiger Beschwerden ist sicherlich zu
einem Teil dadurch zu erklären, dass im Verfahren vor dem
Bundessozialgericht anders als im Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
keine auf das Revisionsrecht spezialisierte Anwaltschaft agiert. Das
Bundesverfassungsgericht hat allerdings in einer Senatsentscheidung zur
verwaltungsgerichtlichen Zulassungsberufung geklärt, dass die Garantie
effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG einer Überspitzung der
Anforderungen an ein Rechtsmittelzulassungsverfahren entgegensteht. Dies
gilt sowohl für die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe
als auch für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe selbst.
Die Darlegungsanforderungen müssen auch von einem durchschnittlichen,
nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten
Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand erfüllt werden können. Das
Bundessozialgericht folgt dieser Rechtsprechung.
b) Zu beachten ist bei der Verwerfung einer
Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig unter Ausschluss der
ehrenamtlichen Richter (§§ 160a Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 i.V. mit 169
SGG) zudem die Garantie des gesetzlichen Richters durch Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG. Zwar ist die schlicht unrichtige Anwendung prozessualer
Vorgaben – die hier mit der faktischen Prüfung von
Begründetheitsanforderungen als Zulässigkeitsanforderungen in Form der
Darlegungserfordernisse in der Beschwerdebegründung vorliegen kann –
keine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 SGG. Das
Bundesverfassungsgericht hat aber betont, dass die Anforderungen an die
Nichtzulassungsbeschwerde nicht überdehnt werden dürfen. Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG ist jedenfalls dann verletzt, wenn der Umfang der
Darlegungsanforderungen sich von den Anforderungen an die Begründetheit
einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht mehr hinreichend unterscheidet.
c) Während die Kenntnis der formellen Anforderungen einer
Nichtzulassungsbeschwerde selbstverständlich auch von einem fachlich
nicht spezialisierten Anwalt erwartet werden kann, dürften im Einzelfall
die oben dargelegten Maßstäbe bei den Anforderungen an die Darlegung der
Zulassungsgründe, namentlich des praktisch wichtigsten Zulassungsgrundes
der grundsätzlichen Bedeutung, nicht immer hinreichend beachtet werden.
Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen die grundsätzliche Bedeutung
schlüssig dargelegt worden ist, die Nichtzulassungsbeschwerde aber
gleichwohl als unzulässig verworfen wird. In diesem Fall muss
richtigerweise die Begründetheit in der Besetzung mit den ehrenamtlichen
Richtern geprüft und die Beschwerde im Falle der nicht vorliegenden
grundsätzlichen Bedeutung als unbegründet zurückgewiesen werden.
Ansonsten wird dem Rechtsmittelführer der gesetzliche Richter verwehrt
und zudem potentiell die Möglichkeit der Einlegung einer
Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des fachgerichtlichen
Rechtsschutzes gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genommen. Dies gilt
namentlich in den Fällen, in denen die Begründung der Entscheidung
unterbleibt.
4. Hinsichtlich der außerrechtlichen Qualitätsanforderungen
spielen im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren als schriftlichem
Verfahren vor allem die Begründung der Entscheidung über die Beschwerde
einschließlich des sich darin abbildenden gebotenen schonenden Umgangs
mit den Verfahrensbeteiligten eine Rolle. Eine zumindest kurze
Begründung einer ablehnenden Entscheidung ist – auch wenn diese nach §
160a Abs. 4 Satz 2 SGG entfallen kann – für die Akzeptanz der
getroffenen Entscheidung bei der unterliegenden Partei ebenso wesentlich
wie für die Prüfung, ob die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde
erwogen werden soll.
Dr. Malte Graßhof
Vizepräsident des Verwaltungsgerichts, Karlsruhe
"Eignung, Leistung und Befähigung
‑
Anspruch und Wirklichkeit ‑
Beurteilungen und dienstrechtliche
Aufsicht"
Die Beurteilung von
Richterinnen und Richtern hat zwei Funktionen. Zum einen stellt sie die
Grundlage für Auswahlentscheidungen bei Beförderungen und ggf.
Versetzungen dar. Zum anderen ist sie eine Maßnahme der Dienstaufsicht
und kann als solche eingesetzt werden, um eine ordnungsgemäße Erledigung
der dienstlichen Aufgaben der Richterinnen und Richter sicherzustellen.
Beide Funktionen dienen der Qualitätssicherung: Ziel der
Auswahlentscheidung ist die Identifizierung des bestmöglichen Personals
(Prinzip der Bestenauslese); die Dienstaufsicht soll zumindest Fehler
und Mängel verhindern oder korrigieren (hierauf liegt bei der
„klassischen“ Dienstaufsicht, mit ihrer Nähe zum Disziplinarrecht, der
Schwerpunkt; idealerweise sollte die Dienstaufsicht aber natürlich auch
die Qualität richterlicher Arbeit verbessern.)
Vor allem in ihrer
Funktion als Mittel der Dienstaufsicht steht die Beurteilung neben
anderen personalbezogenen Maßnahmen der Qualitätssicherung und
‑verbesserung, wie etwa dem Jahresgespräch oder der Supervision. Gerade
bei Richterinnen und Richtern können solche „weichen“
Personalentwicklungsmaßnahmen Vorteile gegenüber der rechtlich „harten“
Beurteilung aufweisen. Unter Umständen treten sogar Konflikte und
Reibungen zwischen der dienstlichen Beurteilung und sonstigen
personalbezogenen Maßnahmen der Qualitätssicherung auf. Dies sollte
durch eine kohärente Personalentwicklungspraxis vermieden werden.
Maßgeblich geprägt wird die Beurteilung in ihrer dienstrechtlichen
Ausgestaltung aber durch ihren funktionalen Bezug auf die
Auswahlentscheidung, woraus verbindliche prozedurale und materielle
Anforderungen folgen. Beurteilungen und Beurteilungssysteme müssen in
erster Linie eine belastbare Grundlage für das Auswahlverfahren zur
Verfügung stellen. Maßstab ist hierbei Art. 33 Abs. 2 GG und der daraus
folgende Bewerbungsverfahrensanspruch konkurrierender Kolleginnen und
Kollegen. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich
insoweit seit einiger Zeit die Tendenz zu einer intensiveren Kontrolle
vor allem der Vergleichbarkeit und der Schlüssigkeit von Beurteilungen
beobachten. Nicht nur hieraus resultiert die Notwendigkeit, auch die
Qualität von Beurteilungssystemen und Beurteilungen zu erhöhen.
Optimierungspotentiale dürften dabei ‑ justiz- und bundesweit ‑ auf
allen Ebenen des Beurteilungsvorgangs bestehen, von der Maßstabbildung
über die Informationsgewinnung bis hin zu der Gestaltung der
eigentlichen Beurteilung und deren Kommunikation.
Dennoch lassen
sich Konkurrentenstreitigkeiten nicht vermeiden; dies ist angesichts
ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe, im Rahmen der Gewährung
subjektiven Rechtsschutzes die (Justiz)Verwaltung zu kontrollieren, auch
nicht wünschenswert. Konkurrentenverfahren sind jedoch zwangsläufig mit
der vorübergehenden Nichtbesetzung der verfahrensgegenständlichen
Stellen verbunden. Vor allem Gerichte können aber längere und gehäufte
Vakanzen schlechter ausgleichen als die meisten Behörden. Gerade aus
Sicht der Justiz besteht daher Anlass, nach Möglichkeiten zu suchen, wie
die Dauer von Konkurrentenstreitigkeiten verringert werden oder wie in
Ausnahmefällen freie Stellen vorübergehend besetzt werden können.