Siehe auch: Urteil des 3. Senats vom 22.4.2015 - B 3 KR 2/14 R -, Urteil des 3. Senats vom 22.4.2015 - B 3 KS 7/13 R -, Urteil des 3. Senats vom 22.4.2015 - B 3 KR 3/14 R -, Urteil des 3. Senats vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R -, Urteil des 3. Senats vom 22.4.2015 - B 3 KR 16/14 R -
Kassel, den 23. April 2015
Terminbericht Nr. 15/15
(zur Terminvorschau Nr. 15/15)
Der 3. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 22. April 2015.
1) Die Revision des Klägers ist ohne Erfolg
geblieben. Zu Recht hat die beklagte Krankenkasse die Erstattung der
Kosten für eine selbst beschaffte Perücke abgelehnt.
Perücken können nach der Rechtsprechung des Senats Hilfsmittel sein.
Insbesondere sind Vollperücken nicht als Gebrauchsgegenstände des
täglichen Lebens von der Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung ausgenommen.
Grundsätzlich haben an einem Verlust des Kopfhaares leidende Männer
jedoch keinen Anspruch auf Versorgung mit einer Vollperücke. Der
alleinige Verlust des Haupthaares beeinträchtigt weder die
Körperfunktionen noch wirkt er entstellend und hat damit keinen
Krankheitswert. Die überwiegende Zahl der Männer verliert im Laufe des
Lebens ganz oder teilweise ihr Kopfhaar. Anders als haarlose Frauen
erregen haarlose Männer aber weder besondere Aufmerksamkeit im Sinne von
Angestarrt-Werden noch werden sie stigmatisiert. Haarlosigkeit bei
Frauen tritt aus biologischen Gründen nicht regelhaft im Laufe des
Lebens ein und ist daher ein von der Norm abweichender Zustand, der
‑ wenn er entstellend wirkt ‑ krankheitswertig sein kann. Die Versorgung
einer Frau mit einer Perücke kann daher Aufgabe der gesetzlichen
Krankenversicherung sein.
Männer sind allerdings nicht vollständig von der Versorgung mit
Vollperücken zu Lasten der Krankenversicherung ausgeschlossen. Ein
solcher Anspruch kann bestehen, wenn der Haarverlust nicht allein die
Kopfbehaarung, sondern auch die übrige Behaarung des Kopfes wie Brauen,
Wimpern und Bart erfasst. Ein solcher Haarverlust geht über den
typischen männlichen Haarverlust hinaus und kann insbesondere bei
Jugendlichen oder jungen Erwachsenen Aufsehen erregen. Je nach Alter des
Mannes und Aussehen des unbehaarten Kopfes kann in einem solchen Fall
eine auffallende, entstellende Wirkung vorliegen, die Krankheitswert
besitzt.
Eine
entsprechende Wirkung hat der haarlose Kopf des zum Zeitpunkt der
Beschaffung der Perücke deutlich über siebzigjährigen Klägers hingegen
nicht. Nicht maßgeblich ist dabei, ob der Betroffene seine Haarlosigkeit
subjektiv entstellend empfindet.
SG Speyer
‑ S 11 KR 214/12 ‑
LSG
Rheinland-Pfalz
‑ L 5 KR 189/13 ‑
Bundessozialgericht
‑ B 3 KR 3/14 R ‑
2) Die Revision
des klagenden Vereins ist ohne Erfolg geblieben. Die beklagte
Künstlersozialkasse hat zu Recht festgestellt, dass der Kläger nach § 24
KSVG abgabepflichtig ist. Er befasst sich mit Werbung oder
Öffentlichkeitsarbeit für Dritte im Sinne des § 24 Abs 1 Satz 1 Nr 7
KSVG, wie das LSG im Ergebnis zutreffend und ohne Verfahrensfehler
entschieden hat.
Der
Kläger betreibt ein "Unternehmen" im Sinne des § 24 KSVG, obwohl er nach
eigener Einschätzung nicht von Gewinnerzielungsabsicht geleitet wird.
Sowohl öffentlich-rechtliche Körperschaften wie privatrechtlich
organisierte Vereine, die lediglich ihre gesetzlichen oder
satzungsgemäßen Aufgaben erfüllen und sich dabei aus
Haushaltszuweisungen oder Beiträgen ihrer Mitglieder finanzieren,
erfüllen den Unternehmensbegriff des § 24 KSVG.
Mit seinen Publikationen, seinem Internetauftritt und seinem Imagefilm
betreibt der Verein Öffentlichkeitsarbeit für Dritte. Er lenkt die
Aufmerksamkeit der werbenden Unternehmen auf das spezielle Angebot der
kostenlosen Anzeigenblätter und macht damit Werbung für Dritte, nämlich
für die Verlage, die bei ihm Mitglied sind. Diese Verlage, die etwa 70%
der Gesamtauflage der kostenlosen Anzeigenblätter in Deutschland
repräsentieren, sind rechtlich im Verhältnis zum Kläger "Dritte", denn
die Mitglieder einer juristischen Person (e.V.) sind mit dieser im
rechtlichen Sinne, auf den es hier allein ankommt, nicht identisch. Dass
von den auf die Werbewirtschaft bezogenen Aktivitäten des Klägers zu
Gunsten der Anzeigenblätter auch die Verlage profitieren, die nicht
Mitglieder des Klägers sind, ist im vorliegenden Zusammenhang
unerheblich.
SG
Berlin
‑ S 111 KR 111/07 ‑
LSG
Berlin-Brandenburg
‑ L 9 KR 182/11 ‑
Bundessozialgericht
‑ B 3 KS 7/13 R ‑
3) Die Revision
der beklagten Krankenkasse ist im Sinne einer Zurückverweisung
erfolgreich. Wie der Senat bereits am 25.2.2015 in zwei Verfahren
entschieden hat, kann eine Einrichtung der Eingliederungshilfe ein
geeigneter Ort zur Erbringung von häuslicher Krankenpflege durch die
Krankenkasse sein, wenn die Einrichtung die Leistung nicht selbst
schuldet. Einfachste Maßnahmen der Krankenpflege, die für Versicherte in
einem Haushalt von jedem erwachsenen Haushaltsangehörigen erbracht
werden können, gehören in der Regel als untrennbarer Bestandteil der
Eingliederungshilfe zu den Maßnahmen, welche die stationäre Einrichtung
als Hilfe zur Führung eines gesunden Lebens zu erbringen hat.
Weitergehende medizinische Behandlungspflege schuldet eine Einrichtung
nur, wenn sich dies aus ihren Verträgen, ihrer Leistungsbeschreibung,
ihrem Aufgabenprofil unter Berücksichtigung der Bewohnerzielgruppe und
ihrer sächlichen und personellen Ausstattung ergibt. Die von der
Beigeladenen zu 2. betriebene vollstationäre Einrichtung, in welcher der
Kläger lebt, hat danach zwar beim Kläger die erforderlichen
Blutzuckermessungen durchzuführen, sie muss ihm aber keine
Insulininjektionen verabreichen, weil sie nicht verpflichtet ist,
medizinisch ausgebildetes Personal vorzuhalten. Die Zurückverweisung ist
wegen fehlender Feststellungen zur Häufigkeit der Insulininjektionen und
der dafür beim Kläger angefallenen Kosten erforderlich.
SG München
- S 29 KR 222/11 -
Bayerisches LSG
- L 4 KR 119/12 -
Bundessozialgericht
- B 3 KR 16/14 R -
4) Die Revision
der Klägerin ist für den Zeitraum vom 1.8.2005 bis zum 30.5.2011 ohne
Erfolg geblieben, weil der Klägerin über die bereits zuerkannten
Leistungen nach der Stufe I vom 1.3.2009 bis zum 30.5.2011 keine
weiteren Leistungen zustehen. Für den Zeitraum vom 31. Mai bis zum
30. November 2011 ist die Revision im Sinn der Zurückverweisung des
Rechtsstreits an das LSG erfolgreich. Insoweit vermag der Senat auf der
Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden,
ob der Klägerin Leistungen nach Pflegestufe II zugestanden haben. Das
LSG hat nicht ermittelt, wie oft die Klägerin Ärzte aufgesucht hat bzw
aufsuchen musste und hätte daher den in dem gerichtlichen Gutachten
festgestellten Grundpflegebedarf von 123 Minuten täglich nicht so weit
wie geschehen reduzieren dürfen. Das vom SG eingeholte Gutachten war
indes voll verwertbar.
Der Senat hält nicht an der Auffassung fest, die Feststellungen in den
von privaten Versicherungsunternehmen eingeholten Gutachten seien für
die Sozialgerichte verbindlich, solange und soweit sie nicht "offenbar
von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen". Dies sieht zwar § 84
Abs 1 Satz 1 VVG (bzw bis zum 31.12.2008 nach dem wortgleichen § 64
Abs 1 Satz 1 VVG) grundsätzlich für alle Arten der privaten
Schadensversicherung so vor; diese Vorschrift ist jedoch auf private
Pflegepflichtversicherungsverträge nicht anwendbar, weil sie insoweit
von den spezielleren Regelungen des § 23 SGB XI verdrängt wird. Die
Vorgaben beider Regelungen lassen sich im Hinblick auf das
grundrechtlich geschützte Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht
miteinander vereinbaren, denn die Durchführung eines
Sachverständigenverfahrens wird durch das SGB XI auch für die private
Pflegeversicherung betreibende Unternehmen hinsichtlich des "Ob und Wie"
gesetzlich weitgehend vorgegeben. Dies wird besonders unter
Berücksichtigung der beihilferechtlichen Vorschriften deutlich. Danach
sind die Feststellungen der Gutachter der privaten
Versicherungsunternehmen auch der Bemessung der Beihilfe zugrunde zu
legen, was entsprechende Rechtsschutzmöglichkeiten erfordert. Der
Gesetzgeber hat die gerichtliche Kontrolle ausdrücklich den
Sozialgerichten übertragen. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind
Gutachten beweisrechtlich grundsätzlich unterschiedslos allein nach
ihrer Überzeugungskraft zu werten. Es ist nicht zu rechtfertigen, den
Gutachten der privaten Pflegeversicherung generell einen höheren
Beweiswert beizumessen. Dies gilt insbesondere, seitdem der Gesetzgeber
durch das Pflegeneuausrichtungsgesetz vom 23.10.2012 das
Gutachtenverfahren im SGB XI verbessert und die Rechte der Versicherten
hinsichtlich der Auswahl eines Gutachters gestärkt hat (§ 18 Abs 3a
SGB XI), ohne deshalb diesen Gutachten mehr Verbindlichkeit
zuzuschreiben. Die Gutachten der privaten Pflegeversicherung, denen kein
derartiges Auswahlverfahren des Betroffenen vorangegangen ist, können
bei Anwendung "gleicher Maßstäbe" dann nicht für die Gerichte
verbindlich sein. Gerade für abgelaufene Zeiträume oder in
Konstellationen, in denen sich die rechtlichen Vorgaben für Leistungen
der Pflegversicherung ändern, kann die Verbindlichkeitsregelung des § 84
VVG der gesetzlichen Intention der Anwendung gleicher Maßstäbe nicht
gerecht werden. Der Nachweis offenbarer, von der wirklichen Sachlage
erheblicher Abweichungen kann für vergangene Zeiträume nur schwer
erbracht werden, und es ist nicht zu rechtfertigen für Übergangs- oder
Besitzstandsregelungen zwischen den von der sozialen Pflegeversicherung
und den von privaten Versicherungsunternehmen eingeholten Gutachten zu
differenzieren.
SG
Frankfurt
- S 9 P 44/06 -
Hessisches
LSG
- L 8 P 5/12 -
Bundessozialgericht
- B 3 P 8/13 R -
5) Die Revision
der Klägerin hatte keinen Erfolg. Die klagende Innung kann nicht
beanspruchen, dass die beklagte Krankenkasse ihr Auskunft über
geschlossene Verträge mit einzelnen Leistungserbringern von Hilfsmitteln
erteilt.
Einen
solchen Anspruch haben nur die Leistungserbringer selbst, nicht aber
ihre Innungen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 127 Abs 2 Satz 4
SGB V. Dieser ist aufgrund der Verzahnung des Beitrittsrechts (§ 127 Abs
2a SGB V) und des Informationsrechts (§ 127 Abs 2 Satz 4 SGB V) auch
nicht erweiternd auf Verbände der Leistungserbringer oder ‑ wie hier ‑
Innungen auszudehnen. Nur die Leistungserbringer können Verträgen nach
§ 127 Abs 2 SGB V beitreten, die eine Krankenkasse mit anderen
Leistungserbringern oder Verbänden/Innungen zur Versorgung der
Versicherten geschlossen hat. Die sachgerechte Ausübung des
Beitrittsrechts setzt aber voraus, dass der Inhalt der Verträge bekannt
ist und korrespondiert daher mit dem Informationsrecht. Da der Klägerin
kein entsprechendes Beitrittsrecht zusteht, bedarf es folglich auch
keines Informationsrechtes.
Eine auf die Aufgaben der Innung nach § 54 HwO gestützte gesetzliche
Prozessstandschaft vermag den geltend gemachten Anspruch der Klägerin
ebenfalls nicht zu begründen, Innungen haben die Aufgabe, die
"gemeinsamen gewerblichen Interessen" der Mitgliedsbetriebe zu fördern.
Die einzelnen Betriebe stehen jedoch miteinander im Wettbewerb, der
nicht von der Innung zu gestalten oder zu lenken ist. Die gesetzliche
Begrenzung des Kreises der auskunftsberechtigten Unternehmen darf nicht
über die generelle Aufgabenzuweisung an die Innung überspielt werden:
wenn der Gesetzgeber generell den Verbänden der Leistungserbringer ein
Einsichtsrecht auch in Einzelverträge, denen sie selbst nicht beitreten
können, hätte geben wollen, wäre dies in § 127 Abs 2 SGB V so bestimmt
worden.
SG Speyer
‑ S 7 KR 482/10 ‑
LSG
Rheinland-Pfalz
‑ L 5 KR 319/12 ‑
Bundessozialgericht
‑ B 3 KR 2/14 R ‑