Verknüpftes Dokument, siehe auch: Urteil des 1. Senats vom 3.7.2012 - B 1 KR 23/11 R -
Medieninformation Nr. 23/12
zur 44. Richterwoche des Bundessozialgerichts
Anlässlich der Eröffnung der 44. Richterwoche
konnte der Präsident des Bundessozialgerichts
zahlreiche Gäste begrüßen, unter ihnen den
Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und
Soziales Dr. Ralf
B r a u k s i e p e , den Staatssekretär im Hessischen
Ministerium der Justiz, für Integration und Europa
Dr. Rudolf
K r i s z e l e i t und den Oberbürgermeister
der Stadt Kassel Bertram H i l g e n. Den Eröffnungsvortrag hielt
Prof. Dr. Heribert
P r a n t l , Süddeutsche Zeitung.
"Bürgernahe Effizienz".
Sie wird sich mit der Erörterung
von aktuellen Fragen des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens befassen.
Die Referenten der 44. Richterwoche sind:
Dr. Frank Salchow, Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH:
"Konformitätsbewertung und Akkreditierung - Leistungen, Grenzen,
Anwendungen"; Prof. Dr. Andreas Spickhoff,
Georg-August-Universität Göttingen: "Zur Zertifizierung im Medizinrecht
‑ juristische Anmerkungen"; Dr. Jürgen Brand, Rechtsanwalt,
Präsident des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen a.D.:
"Einstweiliger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren"; Dr.
Christine Fuchsloch, Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgerichts: "Stolpersteine und Hilfestellungen ‑ Zur
BSG-Rechtsprechung aus Sicht der Instanz";
Lutz Wehrhahn, Vorsitzender Richter am Thüringer
Landessozialgericht: "Verfahrensdauer und Entschädigung"; in der "Aktuellen
Stunde ‑ Armutsbekämpfung und Rente" werden
Dr. Clarita Schwengers,
Deutscher Caritasverband, Stefan
Gasser, Bundessozialgericht,
Christian Luft, Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie
Michael Schröter, Diakonie Deutschland, Statements abgeben. Die
Diskussionsleitung der aktuellen Stunde übernimmt
Peter Masuch, Präsident des Bundessozialgerichts.
Präsident Masuch führte aus, die Vorträge
spannten den Bogen von der Zertifizierung sozialer Dienstleistungen bis
hin zur Entschädigung wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer. Diese
Themen zeigten exemplarisch die Bedeutung Europas im deutschen
Sozialrecht, denn die Zertifizierung entstamme den Richtlinien der
Europäischen Union, die aktuelle Gesetzgebung zur Entschädigung
überlanger Verfahren der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte. Auch nach der Billigung des Euro-Rettungsschirms
durch das Bundesverfassungsgericht gehe die Diskussion über Schritte zur
Stärkung der haushalts‑, wirtschafts‑, finanz‑ und sozialpolitischen
Konsolidierung weiter. Die Konsolidierung der Staatshaushalte müsse
indessen sozialverträglich, insbesondere ohne Eingriffe in gesetzlich
oder gar verfassungsrechtlich verbriefte Sozialrechte erfolgen.
Ermutigend sei der Bericht der EU‑Kommission vom April diesen Jahres,
der die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu auffordere, "einen
arbeitsplatzintensiven Aufschwung zu gestalten". Die Mitgliedstaaten
sollten hiernach für eine stärkere Beschäftigung sozial Schwacher,
insbesondere von Geringverdienern sorgen, Sozialunternehmen als
wichtigen Motoren für die Schaffung inklusiver Arbeitsplätze
unterstützen und einen Aktionsplan für Beschäftigung im Gesundheitswesen
auflegen. Präsident Masuch äußerte, "von einem solchen Europa könnte ich
gar nicht genug bekommen".
Thesen der Referenten zur Richterwoche
Dr. Frank Salchow
Prof. Dr. Andreas Spickhoff
Dr. Jürgen Brand
Dr. Christine Fuchsloch
Lutz Wehrhahn
Deutsche
Akkreditierungsstelle GmbH
- Leistungen, Grenzen,
Anwendungen"
Das ursprünglich aus der Wirtschaft stammende
System der Konformitätsbewertung erlangte seine heutige Bedeutung durch
das Neue Konzept (New Approach) der EU von 1985. Hintergrund war das
Bestreben, den Binnenmarkt durch den Abbau von Handelshemmnissen zu
befördern und die Eingriffe des Staates auf das erforderliche Maß zu
begrenzen. Dazu wird das System der Konformitätsbewertung durch
akkreditierte Stellen genutzt und es werden technische Normen
mandatiert, deren Einhaltung eine Vermutungswirkung bezüglich der
Erfüllung gesetzlicher Anforderungen auslöst.
Inzwischen wurde
das Neue Konzept durch den Neuen Rechtsrahmen (New Legislative
Framework) von 2008 fortgeschrieben. Bestandteile sind die Verordnungen
764/2008, 765/2008 und der Beschluss 768/2008. Rechtsgrundlage des
aktuellen Systems der Konformitätsbewertung und Akkreditierung ist davon
die VO(EG)765/2008. Diese verweist für die Anforderungen an die
nationale Akkreditierungsstelle auf die Norm ISO/IEC 17011:2004 und ist
Grundlage für die Mandatierung der Anforderungsnormen für
Konformitätsbewertungsstellen.
Die hier
verwendeten Begriffe Konformitätsbewertung und Akkreditierung sind
definiert wie folgt:
Konformitätsbewertung
ISO/IEC
17000:2004 :
Darlegung, dass festgelegte Anforderungen bezogen auf
ein Produkt, einen Prozess, ein System, eine Person oder eine Stelle
erfüllt sind
VO(EG) 765/2008:
Verfahren zur Bewertung, ob spezifische Anforderungen an ein Produkt,
ein Verfahren, eine Dienstleistung, ein System, eine Person oder eine
Stelle erfüllt sind
Akkreditierung
ISO/IEC
17011:2004:
Die Bestätigung durch eine dritte Stelle, die formal
darlegt, dass eine Konformitätsbewertungsstelle die Kompetenz besitzt,
bestimmte Konformitätsbewertungsaufgaben durchzuführen.
VO(EG) 765/2008:
Bestätigung durch eine nationale Akkreditierungsstelle, dass eine
Konformitätsbewertungsstelle die in harmonisierten Normen festgelegten
Anforderungen und, gegebenenfalls, zusätzliche Anforderungen,
einschließlich solcher in relevanten sektoralen Akkreditierungssystemen,
erfüllt, um eine spezielle Konformitätsbewertungstätigkeit
durchzuführen.
Im Zuge der
nationalen Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 wurden in
Deutschland folgende Rechtsakte erlassen:
Akkreditierungsstellengesetz (AkkStelleG)
Beleihungsverordnung (AkkStelleGBV)
Kostenverordnung
der Akkreditierungsstelle (AkkStelleKostV)
Akkreditierungssymbolverordnung (SymbolVO)
Auf deren
Grundlage wurde 2009 die Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH als die
nationale Akkreditierungsstelle errichtet, die mit Inkrafttreten der
VO(EG)765/2008 am 01.01.2010 ihre Arbeit aufnahm. Alle anderen bis dahin
tätigen Akkreditierungsstellen in Deutschland mussten ihre Arbeit zu
diesem Zeitpunkt einstellen, da die Verordnung nur eine nationale
Akkreditierungsstelle für jeden Mitgliedsstaat vorsieht.
Prüf- und
Kalibrierlaboratorien, Medizinische Laboratorien, Inspektionsstellen,
Zertifizierungsstellen für Personen, Managementsysteme, Produkte und
Dienstleistungen, sowie Ringversuchsanbieter und Hersteller von
Referenzmaterialien.
Die Leistungen
des Systems
Kompetenzfeststellung
Regelmäßige Überwachung
Unabhängigkeit
Hoheitliches Handeln
Stand der Technik (Normen,
Standards)
Veröffentlichung der
Konformitätsbewertungsstellen mit Kompetenzspektrum
Beteiligung der
interessierten Kreise
Die Grenzen des
Systems
Kompetenz vs. Handeln am Markt
Kein systematischer Zugang
zu Marktinformationen
Staatliche Fachaufsicht (Ministerien) betreibt
selbst Konformitätsbewertungsstellen
Überwachungsmaßnahmen sind
angekündigt
Marktdruck bzgl. privater (internationaler) Standards
Dokumentierter Stand der Technik ist oft veraltet
Kaum
Sanktionsmöglichkeiten
Anwendungsbeispiele
KFZ Hauptuntersuchung
UV-Schutz-Verordnung
Akkreditierungs-und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung
Verifizierungsstellen im Emissionshandel
Georg-August-Universität
Göttingen
"Zur Zertifizierung im Medizinrecht
- juristische Anmerkungen"
1.
Einleitung und Problemstellung
a) Akkreditierung, Zertifizierung und
Klassifizierung als moderne (oder modische?) Grundtendenzen des
aktuellen Bemühens um Qualitätssicherung und -steigerung
b) Grundrechtliche Dimension
2/1.
Vorkommen und Begriff der Zertifizierung (Beispiele)
a) §§ 20 SGB IX, 137d SGB V
(Vorsorge/Rehabilitation)
c) § 291b Abs. 1 SGB V (elektronische
Gesundheitskarte)
c) § 114 Abs. 4 SGB XI (Pflegeversicherung)
d) Arzneimittelzertifikate nach AMG
2/2.
Vorkommen und Begriff der Zertifizierung
e) Insbesondere: Zertifizierung von
Medizinprodukten
f) Begriff der Zertifizierung
3/1.
Zur Reichweite der Zertifizierung, verfolgt anhand des Verhältnisses von
Medizinprodukterecht und sozialrechtlicher Leistungspflicht
a) Anforderungen an Medizinprodukte im
Medizinprodukterecht
- CE-Zertifizierung und -kennzeichnung
- Klassifizierung
3/2.
Zur Reichweite der Zertifizierung, verfolgt anhand des Verhältnisses von
Medizinprodukterecht und sozialrechtlicher Leistungspflicht
b) Exkurs: Mögliche haftungsrechtliche
Konsequenzen der (unrichtigen) Zertifizierung im Kontext der
CE-Zertifizierung des Medizinprodukterechts
3/3.
Zur Reichweite der Zertifizierung, verfolgt anhand des Verhältnisses von
Medizinprodukterecht und sozialrechtlicher Leistungspflicht
c) Zum Verhältnis des Medizinprodukterechts
zum Recht der GKV
(1) Hilfsmittelverzeichnis
- älterer Diskussionsstand
- EuGH-, BSG-Judikatur und § 139 SGB V
- „begründeter Anlass“ für Zusatzprüfungen
3/4.
Zur Reichweite der Zertifizierung, verfolgt anhand des Verhältnisses von
Medizinprodukterecht und sozialrechtlicher Leistungspflicht
(2) Vertraglich
ausbedungene Anforderungen
- Parallele zum Bereich der Hilfsmittel?
- grundrechtliche Dimension
3/5.
Zur Reichweite der Zertifizierung, verfolgt anhand des Verhältnisses von
Medizinprodukterecht und sozialrechtlicher Leistungspflicht
(3) Richtlinien des GBA in Bezug auf
arzneimittelähnliche Medizinprodukte
- BSG v. 3.7.2012 (B 1 KR 23/11 R)
4.
Fazit
Rechtsanwalt, Hagen
Richter des
Verfassungsgerichtshofes Nordrhein-Westfalen (2006-2012)
Präsident des
Landessozialgerichts a.D.
"Der einstweilige Rechtsschutz
im sozialgerichtlichen Verfahren"
Bis 2002 gab es keine ausreichende gesetzliche Regelung des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren. Durch das 6. SGGÄndG wurden §§ 86a, 86b in das SGG eingefügt.
Der einstweilige Rechtsschutz in den
Verfahren der Sozialgerichte ist in § 86b SGG geregelt. Die
Bedeutung der Vorschrift erschließt sich aber erst durch Kenntnis
des § 86a SGG.
Präsidentin des
Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts
"Stolpersteine und Hilfestellungen
- Zur BSG-Rechtsprechung aus Sicht der Instanz"
2
Was braucht die Instanz vom
Revisionsgericht?
3
Beantwortung und
Vereinheitlichung von Auslegungsfragen
3.1
Stolpersteine
3.1.1
Unbestimmte Rechtsbegriffe
3.1.2
Offenlassen von Fragen
3.1.3
Fehlende Überzeugungskraft
3.2
Hilfestellungen
3.2.1
Überzeugende Lösungen
3.2.2
Stringente Ableitungen
3.2.3
Gute Aufarbeitungen und Zusammenfassungen
4
Keine
Meinungsverschiedenheiten zwischen den BSG-Senaten
4.1
Problemstellung
4.2
Einzelfälle
4.3
Zuständigkeitsabgrenzungen
5
Handhabbare Vorgaben zur
Sachverhaltsermittlung und
Verfahrenssteuerung
5.1
Stolperstein: Einzelfallgerechtigkeit
5.2
Stolperstein: Übersteigerte Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung
5.3
Stolperstein: Maßgeblicher Sach- und Streitstand
6
Zurückhaltende und
respektvolle Zurückverweisungsentscheidungen
6.1
Problemstellung
6.2
Wortwahl
6.3
Statistik
7
Richterrecht und Schaffung
von Rechtsfrieden
7.1
Negativbeispiel: Rentenüberleitung Ost
7.2
Positivbeispiel: Ghettorenten
8
Fazit
Vorsitzender Richter am
Thüringer Landessozialgericht, Erfurt
Einleitung
Seit gut einem Vierteljahrhundert rücken EGMR und BVerfG
die Verfahrensdauer immer mehr in den Fokus der Betrachtung von
Streitigkeiten vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit. Kritisch
ist die Verfahrensdauer dann, wenn dadurch faktisch der Zugang zu
effektivem Rechtsschutz nach Art 19 Abs 4 GG bzw nach 6 Abs 1 EMRK
nicht mehr gewährleistet wird. Naturgemäß gerät das Interesse an
der Beschleunigung der Verfahren in ein Spannungsverhältnis mit dem
Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit nach Art 97 Abs 1 GG,
denn es ist Aufgabe des Richters, die Verfahren zu befördern und die
Reihenfolge zu bestimmen, in welcher Verfahren zur Verhandlung und
Entscheidung gelangen.
Vorgeschichte
Die vorhandenen Möglichkeiten, eine
Dienstaufsichtsbeschwerde oder eine Verfassungsbeschwerde einzulegen
oder aber einen Amtshaftungsanspruch geltend zu machen, sah der EGMR
nicht als ausreichend an. Ausdrücklich präferierte der EGMR eine
vorbeugende Lösung. Das BVerfG beschränkte sich nur auf die
Feststellung der Verletzung von Art 19 GG; eine Rechtsgrundlage für
die Gewährung einer Entschädigung verneinte es indes. Das BSG hatte
2005 den später wieder aufgegebenen Versuch unternommen, wegen
überlanger Verfahrensdauer die Revision zuzulassen, auch wenn das
Urteil auf diesem Mangel nicht beruhen kann. Versuche verschiedener
Obergerichte und ein erster Anlauf des Gesetzgebers, eine sog
Untätigkeitsbeschwerde zu installieren, scheiterten.
Die Lösung
Nach Fristsetzung in einem sog Piloturteil (Urteil vom
2. 9. 2010 - 46344/06; betroffen war die Verwaltungsgerichtsbarkeit)
verabschiedete der Gesetzgeber schließlich das Gesetz über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren (im Vortrag kurz: EntschädigungsG) zum
3. 12. 2011. Mit dieser Lösung hat sich der Gesetzgeber für eine
Mischung aus präventiven und kompensatorischen Elementen entschieden
und hinsichtlich der einzelnen Tatbestandsmerkmale an die
Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG angeknüpft. Neu eingefügt
wurden die §§ 198 bis 201 GVG, auf die für die
Sozialgerichtsbarkeit der § 202 SGG verweist. Bereits am 29. 5. 2012
hat der EGMR eine Individualbeschwerde (53126/07) und am
30. 5. 2012 das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde mangels
Rechtswegerschöpfung nicht mehr angenommen bzw zurückgewiesen, weil
nach dem Inkrafttreten des EntschädigungsG die Zulässigkeit dieser
Beschwerden nachträglich entfallen sei.
Gerichtsverfahren und
Verfahrensbeteiligte
Prüfungsgegenstand für die
Angemessenheit der Dauer ist nach § 198 Abs 1 S 1 GVG das
"Gerichtsverfahren". Dieses schließt die Eil- und PKH-Verfahren
sowie Nebenverfahren, etwa Befangenheitsgesuche oder
Kostenentscheidungen, ein. Dagegen werden Widerspruchsverfahren
nicht erfasst. Bezugspunkt für die Beurteilung sind alle Instanzen,
soweit sie in die Haftungsverantwortung des in Anspruch genommenen
Rechtsträgers fallen. Eine andere Betrachtungsweise ist auch nicht
deshalb geboten, weil der Antrag im Einzelfall auf einzelne
Instanzen beschränkt werden kann, bevor das Ausgangsverfahren
abgeschlossen ist. Eine Kompensation der überlangen Laufzeit einer
Instanz durch eine besonders kurze Laufzeit einer anderen Instanz
scheidet aus. Richtervorlagen, Vorlageverfahren und die
Verfassungsbeschwerde zum BVerfG werden nicht einbezogen.
Ausgangspunkt der Prüfung ist die Einleitung des jeweiligen
Verfahrens und Endpunkt nach § 198 Abs 6 Nr 1 GVG der
"rechtskräftige Abschluss". Anspruchsteller kann jeder Beteiligte
des Ausgangsverfahrens mit Ausnahme von Verfassungsorganen und
öffentlichen Stellen sein.
Verzögerungsrüge
Die Verzögerungsrüge ist das präventive Instrument
des EntschädigungsG, keine Untätigkeitsbeschwerde. Es handelt es
sich um eine Obliegenheit des Beteiligten, dem Richter ähnlich einer
Mahnung ein Warnsignal zu senden. Sie ist instanz- und
personengebunden, muss also bei einem Richterwechsel oder bei der
Befassung eines anderen Gerichts wiederholt werden. Die Rüge ist
materiell-rechtliche Voraussetzung für den Anspruch auf
Entschädigung. Die Rüge ist Prozesshandlung, ohne dass besondere
Formvorschriften bestehen. Ggf muss die Auslegung der Erklärung
ergeben, ob wirklich eine Verzögerungsrüge gewollt ist; dazu muss
deutlich zum Ausdruck kommen, dass der Beteiligte mit der
Verfahrensdauer nicht einverstanden ist. Nach § 198 Abs 3 S 2 GVG
tritt nach Rügeerhebung eine Sperrwirkung ein, die erst nach Ablauf
von sechs Monaten erneut möglich ist. Die Rüge ist nur dann mit der
Folge wirksam, dass sie die Voraussetzungen für einen
Entschädigungsanspruch erfüllt, wenn die objektiven Verhältnisse
erwarten lassen, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit
abgeschlossen wird.
Entschädigung
6.1
Allgemein
Die Entschädigung bildet das
kompensatorische Element des EntschädigungsG. Es besteht eine Nähe
zum Aufopferungsanspruch, den der Gesetzgeber in den Materialien als
"staatshaftungsrechtlichen Anspruch sui generis" zum Ausdruck
bringt.
6.2 Unangemessene Dauer
Der Gesetzgeber hat zur Bestimmung der Unangemessenheit
auf die Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zurückgegriffen. Die
Unangemessenheit richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Der
Gesetzgeber hat bewusst keine absolute Frist bestimmt. Der Rückgriff auf
Richtwerte oder Statistik verbietet sich daher. Dabei hat eine
umfassende Abwägung zu erfolgen, die sich neben der Schwierigkeit und
Bedeutung der Sache im Wesentlichen an einer Zuordnung der Umstände des
Verfahrensablaufs zu den Verantwortungssphären der Akteure des
Gerichtsverfahrens orientiert. Auf ein Verschulden oder den Nachweis von
Pflichtwidrigkeiten des Richters oder der Beteiligten kommt es nicht an.
Die "Schwierigkeit" kann tatsächlicher oder rechtlicher Natur sein. Die
"Bedeutung" wird durch das Interesse bestimmt, Verzögerungen zu
vermeiden. Soweit Umstände im Einzelfall nicht der Sphäre des Staates
zuzurechnen sind, begründen sie keine entschädigungsrelevante
Verzögerung der Verfahrensdauer. Es werden Beispiele aufgezeigt. Das
Entschädigungsgericht muss die einzelnen Verfahrenshandlungen des
Gerichts prüfen; dabei ist die Kontrolle aber auf eine reine
Vertretbarkeitsprüfung zu beschränken. In diese Vertretbarkeitsprüfung
fließen die Gesichtspunkte der Komplexität und der Bedeutung der Sache
im Einzelfall ebenfalls ein.
6.3 Höhe der Entschädigung
und Wiedergutmachung a.a.W.
Entschädigt werden
sowohl ein materieller als auch ein immaterieller Schaden, allerdings
kein entgangener Gewinn. Die §§ 249 ff BGB kommen nicht zur Anwendung.
Als materieller Schaden kommt der Substanzverlust in Betracht, wobei der
Nachweis der Kausalität erforderlich ist. Für den Zusammenhang mit dem
immateriellen Schaden besteht eine widerlegbare gesetzliche Vermutung.
Die Höhe dieser Entschädigung wird vom Gesetz pauschal auf 1.200 Euro
pro Jahr angesetzt, wobei eine Abweichung hiervon nur in atypischen
Fällen zulässig ist. Eine Entschädigung wird nur für die Teile der
Gesamtverfahrensdauer gewährt, die sich nach den oben genannten
Kriterien als unangemessen erweisen. Eine Besonderheit besteht für von
mehreren Personen eingeleitete Verfahren mit der Folge, dass diese
sowohl die Vorteile als auch die Nachteile eines verbundenen Verfahrens
teilen müssen. Dem Entschädigungsgericht stehen im Wesentlichen folgende
Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung:
· nur
die Verurteilung zu (immaterieller und materieller) Entschädigung in
bestimmter Höhe,
·
sowohl die Verurteilung zu Entschädigung in bestimmter Höhe als auch (in
besonders schwerwiegenden Fällen) die Feststellung der unangemessenen
Verfahrensdauer und
·
ausschließlich die Feststellung der unangemessenen Verfahrensdauer.
Verfahren vor den
Entschädigungsgerichten
Richtige Beklagte ist
nach § 200 GVG der Träger der Justizhoheit. Klageerhebung ist
grundsätzlich frühestens sechs Monate nach Erhebung der
Verzögerungsrüge zulässig. Wird die Klage nicht spätestens sechs
Monate nach Eintritt der Rechtskraft oder sonstiger Erledigung
erhoben, ist eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist versäumt, auf
welche die Vorschriften über die Verjährung Anwendung finden. Dauert
das Ausgangsverfahren noch an, "kann" das Entschädigungsverfahren
nach § 201 Abs 3 GVG ausgesetzt werden. Ein Vorverfahren ist nicht
erforderlich. Bei der Bezugnahme auf § 12 GKG (Zustellung und damit
Rechtshängigkeit erst nach Gebühreneinzahlung) mit dem neu
eingeführten § 12a GKG dürfte es sich für die Gerichte der
Sozialgerichtsbarkeit um ein redaktionelles Versehen handeln.
Schlusswort
Insgesamt dürfte der Gesetzgeber die Vorgaben des EGMR und
des BVerfG auch vor dem Hintergrund richterlicher Unabhängigkeit
ausgewogen umgesetzt haben. Einzelheiten bedürfen sicherlich noch
der Ausarbeitung in der Rspr. Der Gesetzgeber sieht offenbar noch
ausreichend Handlungsspielräume zur Verfahrensbeschleunigung durch
die Gerichte, thematisiert jedoch zu Unrecht nicht die strukturellen
Probleme der Justizhaushalte, ohne deren Lösung eine Beschleunigung
der Verfahren nur auf Kosten der Qualität der gerichtlichen
Entscheidungen möglich ist.