Verknüpftes Dokument, siehe auch: Urteil des 11. Senats vom 23.2.2017 - B 11 AL 2/16 R -, Urteil des 4. Senats vom 23.2.2017 - B 4 AS 57/15 R -, Urteil des 11. Senats vom 23.2.2017 - B 11 AL 4/16 R -, Urteil des 11. Senats vom 23.2.2017 - B 11 AL 1/16 R -, Urteil des 11. Senats vom 23.2.2017 - B 11 AL 3/16 R -
Kassel, den 23. Februar 2017
Terminbericht Nr. 4/17
(zur Terminvorschau Nr. 4/17)
Der 4./11. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 23. Februar 2017.
1) Die Revision hatte keinen Erfolg. Das SG
ist zu Recht davon ausgegangen, dass einer Rücknahme des Bescheides vom
21.4.2005 entgegensteht, dass dies - auch bei dessen Rechtswidrigkeit -
keine leistungsrechtlichen Auswirkungen mehr haben könnte. Die Rücknahme
eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes steht unter dem Vorbehalt, dass
Sozialleistungen nach § 44 Abs 4 SGB X noch zu erbringen sind. Dies ist
hier jedoch ausgeschlossen.
Gegenstand des Verfahrens ist der
Bescheid vom 26.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
2.4.2015, durch den es der Beklagte abgelehnt hat, den vom Kläger mit
seinem Überprüfungsantrag vom 30.9.2014 in Bezug genommenen "Aufhebungs-
und Erstattungsbescheid" vom 21.4.2005 zurückzunehmen. Der Inhalt dieses
Bescheides ist durch Auslegung zu ermitteln. Entsprechend den
Ausführungen des SG sieht auch der Senat als Regelungsinhalt des
Bescheides vom 21.4.2005 allein eine teilweise Aufhebung der SGB
II-Bewilligung für die Monate Januar bis April 2005. Im Ergebnis hat der
Bescheid vom 21.4.2005 bewirkt, dass Sozialleistungen zu Unrecht nicht
erbracht worden sind. Zwar erfolgte die tatsächliche Einbehaltung der
SGB II-Leistungen in dem Zeitraum vom 1.1.2005 bis 30.4.2005 zunächst
nicht infolge einer (unrichtigen) Entscheidung in der Gestalt eines
rechtswidrigen Verwaltungsakts, sondern beruhte auf einem sonstigen
(hoheitlichen) Handeln des Beklagten. Dennoch besteht hier ein
rechtlicher Zusammenhang zwischen der teilweisen Nichterbringung bereits
bewilligter SGB II-Leistungen und dem zur Überprüfung gestellten
Bescheid, weil der Beklagte der Sache nach einen Aufhebungsbescheid nach
vorläufiger (teilweiser) Zahlungseinstellung erlassen hat. Ein enger
zeitlicher und rechtlicher Zusammenhang zwischen der Einbehaltung der
SGB II-Leistungen und dem nachfolgenden Bescheid ist hier zu bejahen.
Sind demnach die vorläufig einbehaltenen SGB II-Leistungen wegen des
streitigen Bescheides vom 21.4.2005 nicht - nachträglich - ausgezahlt
worden, sind Sozialleistungen gegebenenfalls zu Unrecht nicht erbracht
worden. Schon eine Rücknahmeentscheidung ist daher nicht mehr zu
treffen.
SG Cottbus
- S 31 AS 1649/15 -
Bundessozialgericht
- B 4 AS 57/15 R -
2) Die Revision
der Klägerin war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
Entgegen der Auffassung des LSG hat die Klägerin zwar zum 1.1.2014 die
Anwartschaftszeit für einen neuen Anspruch auf Alg erfüllt. Eine
abschließende Entscheidung in der Sache ist dem Senat jedoch nicht
möglich, weil die Feststellungen des LSG nicht für die Beurteilung
ausreichen, ob alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg über den
7.2.2014 hinaus vorliegen.
Durch den Bezug der
Erwerbsminderungsrente vom 1.5.2012 bis 31.12.2013 stand die Klägerin
innerhalb der Rahmenfrist 20 Monate in einem
Versicherungspflichtverhältnis gemäß § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III. Trotz des
Zeitraums von 43 Tagen zwischen dem Ende des Bezuges von Alg und dem
Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung ist hier noch von einem
unmittelbar vorhergehenden Leistungsbezug iS des § 26 Abs 2 SGB III
auszugehen.
Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik sowie
Sinn und Zweck des § 26 Abs 2 SGB III schließen es nicht aus, bei
einzelnen Tatbeständen trotz Unterbrechungszeiträumen von mehr als einem
Monat eine Versicherungszeit anzuerkennen. Der Schutzzweck der
jeweiligen Regelung erfordert jeweils die Prüfung, welche besonderen
Umständen zur Unterbrechung geführt haben. Besonderheiten der in § 26
Abs 2 SGB III im Einzelnen bezeichneten Lohnersatzleistungen sind in
diesem Rahmen zu berücksichtigen.
Grund für die Einfügung des
hier anwendbaren § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III war der Befund, dass Personen,
die wegen Erwerbsunfähigkeit ihre Beschäftigung aufgeben müssen oder den
Bezug von Alg beenden, bei späterer Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nur
unzureichend in das Leistungssystem der Arbeitsförderung einbezogen
sind. Ausdrücklich sollte der Arbeitslosenversicherungsschutz dieser
trotz zeitweiliger Erwerbsunfähigkeit auf den Arbeitsmarkt
zurückkehrenden Personengruppe verbessert werden. Eine enge Auslegung
des Begriffs "unmittelbar" würde dieses Ziel in vielen Fällen verfehlen.
Denn das Zusammenspiel des Leistungsrechts der Arbeitslosenversicherung
und der Rentenversicherung führt zu systembedingten Lücken. Da Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet werden und
deshalb nicht vor Beginn des siebten Monats nach Eintritt der Minderung
der Erwerbsfähigkeit einsetzen, können immer dann Lücken von mehr als
einem Monat zwischen dem Ende des Alg-Bezugs und dem Beginn der
Erwerbsminderungsrente auftreten, wenn die Feststellung der
Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger frühzeitig erfolgt.
Diese Lücke ist von den Leistungsbeziehern nicht zu beeinflussen. An
deren Schutzwürdigkeit ändert sie indes nichts, selbst wenn die Lücke
mehr als einen Monat beträgt.
Hier war die Klägerin zum
8.3.2012 aus dem Alg-Bezug ausgeschieden, weil ihre objektive
Verfügbarkeit krankheitsbedingt entfallen war. Da zudem der
Rentenversicherungsträger die verminderte Erwerbsfähigkeit festgestellt
hatte, entfiel auch die Fiktion der objektiven Verfügbarkeit und damit
ein Anspruch auf Alg. Auf die Lücke bis zum Beginn der
Erwerbsminderungsrente am 1.5.2012 hatte die Klägerin keinen Einfluss,
so dass die Zeit des Rentenbezug als Versicherungszeit anzuerkennen ist.
SG Aachen
- S 15 AL 941/14 -
LSG Nordrhein-Westfalen
- L 9 AL 286/14 -
Bundessozialgericht
- B 11 AL 3/16 R -
3) Die Revision
des Klägers hatte Erfolg. Der Kläger hat entgegen der Auffassung des LSG
die erforderliche Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Alg erfüllt.
Neben der Zeit der versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb der
Rahmenfrist von 84 Tagen ist auch der Bezug von Krankentagegeld in der
Zeit vom 11.3.2010 bis 1.5.2011 (415 Tage) als
Versicherungspflichtverhältnis gemäß § 26 Abs 2 Nr 2 SGB III zu
berücksichtigen.
Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriff
"unmittelbar" hat - wie der Senat im Verfahren B 11 Al 3/16 R bereits
entschieden hat - in erster Linie nach Sinn und Zweck der jeweiligen
Einzelregelung zu erfolgen. Sinn und Zweck des hier anwendbaren § 26 Abs
2 Nr 2 SGB III ist es, versicherungspflichtige Beschäftigte, die nicht
gesetzlich krankenversichert sind, bei privater Absicherung für den Fall
der Arbeitsunfähigkeit durch ein Krankentagegeld mit gesetzlich
versicherten Beschäftigten, die Anspruch auf Krankengeld haben,
gleichzustellen. Dieser Zweck erfordert eine Gleichstellung in Fällen,
in denen eine Leistungslücke eintritt, weil eine Entgeltfortzahlung nach
dem Entgeltfortzahlungsgesetz wegen der Beendigung des
Arbeitsverhältnisses nicht für den Höchstzeitraum von 6 Wochen erfolgt.
In diesen Fällen setzt bei gesetzlich Krankenversicherten das
Krankengeld in der Regel unmittelbar nach dem Ende des
Arbeitsverhältnisses ein, so dass eine Lücke nicht entstehen kann.
Ein solcher Fall, der eine Gleichstellung erfordert, liegt hier vor.
Wegen der - vom Kläger nicht beeinflussbaren - Arbeitsunfähigkeit kurz
vor dem Ende seines Beschäftigungsverhältnisses am 28.1.2010 setzte die
Krankentagegeldzahlung trotz des Wegfalls der Entgeltfortzahlung nach
dem EFZG mit dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses zum 1.2.2010 erst
am 11.3.2010 ein. Diese durch die besonderen Umstände des Einzelfalls
geprägte Lücke ist als anschlusswahrend anzusehen, obwohl sie den
Monatszeitraum um 8 Tage überschreitet.
SG Gießen
- S 20 AL 237/12 -
Hessisches LSG
- L 7 AL 145/14 -
Bundessozialgericht
- B 11 AL 4/16 R -
4) Die Revision
der Klägerin führte zur Aufhebung des Urteils des LSG und zur
Zurückverweisung. Das LSG hat zu Unrecht festgestellt, der Prozess sei
durch Rücknahme der Klage erledigt, weil die Klägerin eine derartige
Prozesserklärung nicht abgegeben hat. Das Revisionsgericht hat bei
Prozesserklärungen deren Auslegung in vollem Umfang zu überprüfen. Zwar
ist mit dem LSG davon auszugehen, dass eine Erledigungserklärung je nach
prozessualer Konstellation eine Klagerücknahme, Berufungsrücknahme oder
die Annahme eines von dem Beklagten abgegebenen Anerkenntnisses sein
kann, ohne dass von den Gerichten umfassende Überlegungen zu den Motiven
der jeweiligen Erklärungen erwartet werden können.
Jedoch
bedurfte der Schriftsatz der Klägerin vom 3.5.2013 angesichts besonderer
Umstände der Auslegung. Das LSG hätte zunächst berücksichtigen müssen,
dass die Erklärung ausdrücklich an das SG gerichtet war und in dem
anhängigen Berufungsverfahren zunächst keine Wirkungen entfalten konnte.
Nach § 269 Abs 2 S 1 ZPO ist die Rücknahmeerklärung notwendig im
anhängigen Verfahren abzugeben, in dem sie zur Auswirkung kommen soll.
Da der Rechtsstreit inzwischen beim LSG anhängig war, hätte die
Erklärung gegenüber diesem als Prozessgericht abgegeben werden müssen.
Entscheidend ist hier aber, dass weitere objektive Begleitumstände
vorlagen, die gegen eine Auslegung als Klage- oder Berufungsrücknahme
sprechen. Für das SG hätte zumindest Veranlassung zu einer Rückfrage bei
dem Prozessbevollmächtigen bestanden, weil zuvor - gleichfalls mit dem
unzutreffenden Aktenzeichen S 40 AL 118/11 - ein
Kostenfestsetzungsantrag vom 25.4.2013 eingegangen war, der inhaltlich
in mehrfacher Hinsicht auf das inzwischen durch Anerkenntnis des
Beklagten und Erledigungserklärung der Klägerin beendete Verfahren Bezug
nahm. Die unzureichende Prüfung ist den Gerichten zuzurechnen.
SG Lübeck
- S 40 AL 118/11 -
Schleswig-Holsteinisches LSG - L 3 AL
49/13 -
Bundessozialgericht
- B 11 AL 2/16 R -
5) Die Revision
der Klägerin war unbegründet. Das LSG hat zutreffend das Urteil des SG
bestätigt und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, denn die
Klägerin hat für die Zeit vom 8.9. bis 30.9.2008 keinen höheren Anspruch
auf Alg.
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für einen
Anspruch auf Alg. Insbesondere erfüllt sie die Anwartschaftszeit, denn
sie stand während ihrer Tätigkeit im "freiwilligen sozialen Jahr" in
einem Versicherungspflichtverhältnis. Der Gesetzgeber hat keinen Zweifel
daran gelassen, dass er eine Tätigkeit nach Maßgabe des Gesetzes über
ein freiwilliges soziales Jahr vom Schutzbereich der
Arbeitslosenversicherung umfasst sehen will. Er hat die Tätigkeit einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt. Aus den
Regelungen über Entsendung und des europäischen Koordinierungsrechts
ergibt sich nichts anderes. Auf die versicherungspflichtige
Beschäftigung der Klägerin findet deutsches
Arbeitslosenversicherungsrecht Anwendung, weil sie nach § 4 Abs 1 SGB IV
zeitlich begrenzt ins Ausland entsandt war. Der Anwendbarkeit deutschen
Sozialrechts stehen auch keine Bestimmungen des Unionsrechts entgegen.
Zutreffend hat das LSG auch entschieden, dass die Klägerin für die Zeit
vom 8.9.2008 bis zum 30.9.2008 Anspruch auf Alg in Höhe von 7,51
Euro/täglich hat. Das Ziel der Klägerin, der Bemessung des Alg ein
fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, findet im Gesetz keine
Grundlage. Denn im Bemessungszeitraum hat sie beitragspflichtiges
Arbeitsentgelt in Form von Taschengeld in Höhe von 2460,00 Euro sowie
Sachleistungen erhalten. Der Wert des Mittagessens ist mit monatlich 80
Euro zu berücksichtigen. Der Wert der gestellten Unterkunft ist mit
monatlich 198 Euro anzusetzen. Die Regelung über die fiktive Bemessung
setzt voraus, dass kein Arbeitsentgelt erzielt wurde - anders als hier
-.
SG Magdeburg
- S 20 AL 5/09 -
LSG Sachsen-Anhalt
- L 2 AL 72/13 -
Bundessozialgericht
- B 11 AL 1/16 R -
Die Urteile, die ohne mündliche
Verhandlung ergehen, werden nicht in der Sitzung verkündet. Sofern die
Ergebnisse von allgemeinem Interesse sind, erscheint ein Nachtrag zum
Terminbericht nach Zustellung der Urteile an die Beteiligten.